Tote Zeugen singen nicht

 
  • Deutscher Titel: Tote Zeugen singen nicht
  • Original-Titel: La polizia incrimina la legge assolve
  • Alternative Titel: Straße ins Jenseits | High Crime | Avrättningen | The Marseilles Connection | Kommissarie Bellie | La policía detiene, la ley juzga | Streets of Eternity |
  • Regie: Enzo G. Castellari
  • Land: Italien, Spanien
  • Jahr: 1973
  • Darsteller:

    Franco Nero (Kommissar Belli), James Whitmore (Polizeichef Scavino), Delia Boccardo (Mirella), Fernando Ray (Cafiero), Duilio Del Prete (Umberto Griva), Silvano Tranquilli (Franco Griva), Ely Galliani (Chicca), Daniel Martin (Rico)


Vorwort

Abt. Kommissar Eisenharts Weg aus der Versenkung

Was neues Futter an italienischen Action-Krimis angeht, kann ich mich als Fan und Konsument in letzter Zeit kaum beklagen. Die filmArt Polizieschi Edition läuft recht regelmäßig, was das Regal zuverlässig mit rotfarbigen Amarays füllt, aber auch die Österreicher von Cineploit sorgen stetig für Nachschub. Das garantiert zwar nicht jede Woche neuen Filmgenuss für den Connoisseur italienischer Krimikost, doch dafür tauchen vor allem einige Genrevertreter auf, die seit der guten, alten Videothekenzeit verloren schienen. Das erlaubt zumeist einen nostalgischen Blick zurück, begleitet von einer der damals verlässlich hochwertigen deutschen Synchros, lässt einen verloren geglaubtes neu oder erstmals entdecken. Mit TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT ist zudem ein richtiger Klassiker wieder aus der Versenkung aufgetaucht, der zudem die erste Zusammenarbeit des Dreamteams Enzo G. Castellari und Franco Nero darstellt. Also horchen wir nun den herrlichen Klängen der Bezeugung, bevor sie gewaltsam abgewürgt werden, beobachten wir Nero zwischen beruflicher Kastration durch lästige Vorschriften und Vorgesetzte und privater Kastration durch Vermischung seiner zuvor gründlich voneinander weg sortierten Lebensbereiche.


Inhalt

Der kaltschnäuzige Kommissar Belli bekämpft in Genua ein gnadenloses Syndikat von Drogenschmugglern. Doch die Arme der kriminellen Organisation sind lang und stark, und so wird ein mühselig per Verfolgungsjagd gestellter Gangster schon bei der Fahrt ins Polizeirevier vorsorglich in die Luft gejagt, was Belli nur durch Zufall überlebt. Auch die Rückendeckung seines Chefs Scavino lässt in seinen Augen stark zu wünschen übrig. Denn Scavino vertröstet ihn immer wieder damit, dass er eben nicht nur die kleinen, sondern auch die großen Fische, sprich „sie alle“, fangen will. Also greift Belli auf Tipps des alternden Gangsterbosses Cafiero zurück, um das Syndikat auch mal da zu treffen, wo es weh tut. Doch die Methoden seiner Gegenspieler werden rüder, Zeugen rücksichtslos ermordet und an den Genitalien entstellt. Langsam, aber sicher kristallisiert sich trotzdem heraus, dass die einflussreichen Unternehmer Umberto und Franco Griva große Nummern im schmutzigen Spiel sind. Doch es ist abermals Scavino, der Belli ausbremst. Und das nicht ohne Grund, scheint seine langwierige Arbeit nun endlich Früchte zu tragen…

Besprechung:

Nach dem Vorbild der aktionsgeladenen Thriller nach Carlo Lizzani (DIE BANDITEN VON MAILAND), Ducio Tessari (DER BASTARD) oder Fernando Di Leo (MILANO KALIBER 9) entstand in Italien Anfang der 70er eine neue Art von Polizeifilm. Die Erfolge von Stenos DAS SYNDIKAT (1972) und eben Castellaris vorliegenden TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT (1973) stießen den wohl wichtigsten italienischen Kino-Trend dieses Jahrzehnts an und lösten damit den Italo-Western als Publikumsmagnet ab. Und das hatte einen einfachen, wie auch sehr ernsten Hintergrund. Seit den 60er-Jahren führten die großen Mafia-Familien des Landes nicht nur untereinander, sondern auch gegen die Strafverfolgungsbehörden Krieg und politischer Terror erschütterte zusätzlich das Land. Es kam zu Morden, Entführungen und Bombenanschlägen. Durch die immer mehr an Bedeutung gewinnende mediale Berichterstattung erschien den Leuten der Staat in seinem Gewaltmonopol erschüttert. Der stahlharte Kommissar, der den Poliziesco als verlässliche Hauptfigur prägen sollte, in groben Zügen aus dem US-Kino dieser Tage importiert, war zwar in beiden Filmen nur in Ansätzen zu erkennen, aber immerhin beweisen Enrico-Maria Salerno in DAS SYNDIKAT und Franco Nero in TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT den Willen, das Verbrechen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verfolgen und niederzuringen, auch wenn dies große persönliche Verluste mit sich bringen sollte. Als weiteres Element hielten die Verstrickungen der Mafia in Hochfinanz und Politik, wie sie schon Damiano Damiani in seinen Krimis und Polit-Thrillern herausarbeitete, Einzug in die Action-Krimis des Poliziesco, sollte aber im Folgenden nur in seinen hochklassigen Vertretern eine Rolle spielen. Den nächsten Schritt machte dann Marino Girolami (pikanterweise Castellaris lieber Herr Vater) mit seinem GEWALT RAST DURCH DIE STADT (1975), in dem ein gewisser Maurizio Merli die Hauptrolle übernahm, weil man Franco Nero eben nicht verpflichten konnte. Die politische Komponente wurde bei Girolami weitestgehend ausgeklammert, er lotete lieber die gesellschaftliche Akzeptanz von Selbstjustiz seitens des in seiner Arbeit durch lästige Gesetze eingeschränkten Ermittlers aus, dem hier das verlockende Angebot unterbreitet wird, einem Geheimbund von Vigilanten aus dem gutbürgerlichen Metier, das es satt hat, weiterhin christlich die andere Wange hinzuhalten, beizutreten. Es waren darauf auch die Filme Merlis, vor allem unter der Regie von Umberto Lenzi in DIE VIPER (1976) und CAMORRA – EIN BULLE RÄUMT AUF (1976), die die Wandlung des aufrechten Ordnungshüters zum moralisch strauchelnden Rächer skizzieren. Aber ich schweife mal wieder ab…

TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT stellt tatsächlich das Bindeglied zwischen den anspruchsvollen Polit-Krimis Damianis und den exploitativen Actionfilmen seiner Kollegen Umberto Lenzi (DIE GEWALT BIN ICH), Stelvio Massi (CONVOY BUSTERS) oder Mario Bianchi (PROVINZ OHNE GESETZ) dar. Das Skript von Tito Carpi und Gianfranco Clerici räumt zwar den Machenschaften der Strippenzieher hinter den Kulissen selbst nicht allzu viel Platz ein, führen die Fäden ihrer Marionetten immer nur andeutungsweise zu ihnen zurück. Doch alleine die Bremsklötze, die Belli immer wieder von seinem Chef Scavino vor die Füße gelegt werden, um nicht vorschnell die dicken Fische im Teich zu verschrecken, und die Macht, jeden überall töten lassen zu können, zeugen von der Bedrohung, die von ihnen ausgeht. Damit zeigt er zwar nicht so deutlich mit dem Finger auf die entsprechenden Interessengruppen, wie es Damiani in seinen Filmen praktizierte, konkretisiert aber die Wurzel des Übels über das Abstrakte hinaus. Eine weitere Parallele zum erklärten Mafiagegner ist natürlich die Wahl des Hauptdarstellers. Franco Nero hatte schon einige Male mit Damiani zusammengearbeitet, er muss hier den Film schultern, denn bei seinem Kommissar Belli laufen alle Fäden der Story zusammen. Da sein Vorgesetzter Scavino nicht gewillt ist, ihn vorbehaltlos zu unterstützen und eine ganzheitliche Lösung für das Problem des von oben nach unten in der Gesellschaft organisierten Verbrechens sucht, wendet sich Belli eben an den Gangster Cafiero, der natürlich aber auch zuallererst eigene Interessen verfolgt und den Ermittler in seinem Sinne zu manipulieren sucht. Das bringt ihn nur bedingt näher an sein Ziel, aber immerhin nahe genug, um selbst auf der Abschussliste des Syndikats zu landen. Die Figurenkonstellation von TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT sollte letztlich archetypisch für den Poliziesco sein. Wir haben den aufrechten Cop mit kurzer Lunte, dessen rigider Vorgesetzter ihn in Zaum und den Blick aufs große Ganze hält, während die unantastbar scheinenden Hintermänner wortkarge Männer fürs Grobe aussenden, um Probleme aus dem Weg zu räumen. Und es darf auch eine jüngere Freundin, die die Potenz des Cops unterstreicht, aber auch als soziales Gewissen fungiert, nicht fehlen.

Regisseur Enzo G. Castellari kam vom Italo-Western, wo er einige mehr als solide Beiträge, u.a. DJANGO – DIE TOTENGRÄBER WARTEN SCHON (1968) oder TÖTE ALLE UND KEHRE ALLEIN ZURÜCK (1968), abgeliefert hatte. Seine Stärken waren in einer sehr vorwärtsorientierten Erzählweise und, wenig überraschend, in der Inszenierung aktionsbetonter Stoffe zu finden, neben einiger Klassiker unter den Polizieschi, etwa EIN BÜRGER SETZT SICH ZUR WEHR (1974) und RACKET (1976), verdanken wir ihm den Western KEOMA (1976) und die lustigen Actioner THE RIFFS 1+2 (1982/83), die zu den letzten Highlights des italienischen Kinos der 80er zählen. TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT beginnt dementsprechend auch mit einem Paukenschlag – nach einer mehr-minütigen Verfolgungsjagd darf Belli einen flüchtigen Gangster fangen, der dann, wie schon erwähnt, im Gewahrsam in die Luft gejagt wird (inklusive Polizeiwagen und zweier Beamte aus dem Geleitschutz). Erstaunlicherweise wäre das dann auch schon der Höhepunkt des Films, wenn es nur rein um die Action ginge. Castellari vertraut dem guten Drehbuch und auch seinem Star, der eben nicht nur zulangen kann, sondern auch einen ernsthaften Krimi- oder Thriller-Stoff mühelos schultert. Ihn fokussiert treibt der Regisseur die Geschichte flott voran, unterstützt durch die hervorragende Kamera-Arbeit des Spaniers Alejandro Ulloa, der schon Lucio Fulcis frühen Giallo NACKT ÜBER LEICHEN (1968) kongenial fotografierte. Als letztes Puzzleteil lieferten dazu Maurizio und Guido de Angelis einen fetzigen Soundtrack, dessen Hauptthema sich sofort im Ohr festsetzt.

Sieben Jahre nach DJANGO (1966) war Franco Nero nicht nur ein Actionstar, sondern ein ernst zu nehmender Schauspieler. Sein Belli steht andauernd unter Strom und schießt auch gerne Mal übers Ziel hinaus. Er wird uns als manischer Charakter präsentiert, der seiner Berufung alles unterordnet. Seine Tochter, er ist wohl Witwer, verweilt die meiste Zeit im Internat (oder bei Onkel und Tante, so richtig klar wird das nie, ist aber auch letztlich unerheblich), er vergisst sogar, sie abzuholen, als sie für die Ferien nach Hause kommt. Auch seine Beziehung zu seiner jüngeren Freundin Mirella, gespielt von der entzückenden Delia Boccardo (DAS WILDE AUGE, DIE KILLER-MAFIA), hält er strikt von seinem Familienleben als Vater, wenn er denn mal diese Rolle ausfüllt, getrennt. Natürlich wird es sich am Ende rächen, dass er es nicht unter einen Hut bekommt, ein genauso schlechter Vater wie Lebensgefährte ist. Die Rolle scheint wie gemacht für Nero, der zum einen physische Präsenz ausstrahlt, aber mimisch auch imstande ist, einen Blick auf das Innenleben seiner Figur zu vermitteln. Seine folgende Zusammenarbeit mit Castellari sollte sehr fruchtbar sein, sie drehten fünf Filme zusammen. Nero war schon damals ein Star von internationalem Format und damit einer der Gründe, weswegen sich das italienische Kino gut ins Ausland verkaufen ließ. Als sein Vorgesetzter Scavino überzeugt der Amerikaner James Whitmore, der zweimal für den Oscar nominiert war, zuletzt als US-Präsident Harry S. Truman im Biopic GIVE EM HELL, HARRY! (1975). Der stand also schauspieltechnisch noch voll im Saft und das merkt man. Er gibt den harten Polizeichef mit einer ehrfurchtsgebührenden Ernsthaftigkeit, lässt aber trotzdem den Druck, unter dem er merklich steht, spürbar werden. Fernando Ray spielt den alternden Gangster Cafiero, ein weiterer Nachweis für qualitativ hochwertiges Casting, denn der Spanier war in dieser Zeit mit u.a. FRENCH CONNECTION (1971) und DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOSIE (1972) noch gut im Geschäft und eine sichere Bank. Den älteren der Griva-Brüder, Franco, gibt Silvano Tranquilli (DER SCHWARZE LEIB DER TARANTEL, BLUTSPUR IM PARK), der solch eine Rolle sicherlich auch im Schlaf spielen konnte. Nur Duilio Del Prete hinterlässt als Umberto Griva (VOICES FROM BEYOND) keinen wirklich bleibenden Eindruck. Delia Boccardo wird hier leider zu einem hübschen Anhängsel degradiert, dem sie aber zumindest vollends gerecht werden kann.

Veröffentlichung:

TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT lief 1974 leicht gekürzt in den bundesdeutschen Kinos und enterte später unter dem Titel STRASSE INS JENSEITS in wohl derselben Fassung die Videotheken. Dem Film wurde weltweit kaum die Aufmerksamkeit zuteil, die er eigentlich verdient hätte. In Deutschland ward er über die Jahre fast vergessen, bis er vor einiger Zeit auf Amazons Streamingportal Prime Video zu finden war. Nun veröffentlichte filmArt den fast vergessenen Klassiker auf Blu-ray, was natürlich erfreulich ist. Das Bild ist gut, weitestgehend frei von Verschmutzungen, wenn auch nicht referenzwürdig, was unter den gegebenen Umständen wohl auch nicht zu erwarten war. Der deutsche Ton ist gut verständlich, der italienische wie auch englische Soundtrack hat es genauso auf die Scheibe geschafft. Im Bonusmaterial finden sich Trailer und verschiedene internationale Vorspänne des Films, sowie eine Fassung mit alternativem Ende, welches ich noch nicht gesichtet habe. Das Booklet von Michael Cholewa geht wohl noch etwas genauer auf den Film ein und behandelt auch den italienischen Polizeifilm an sich und die Karriere von Franco Nero im speziellen (ich muss zugeben, ich hab gerade nur reingeblättert).

Fazit:

Über die Qualität des Films lässt sich kaum streiten, TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT zählt sicherlich zu den frühen Highlights des Poliziesco. Seine Plotte erweist sich vielen seiner zahlreichen Follow-ups strukturell und intellektuell überlegen, zudem sorgt Castellari dafür, dass die Mischung aus Action und Thriller stets im Gleichgewicht bleibt. Aber der Film ist alleine schon wegen Franco Nero sehenswert, der voll in seiner Rolle aufgeht. Auch seine Vorreiterstellung für die Welle an Polizeifilmen, der er mehr als gerecht wird, hebt ihn von den meisten der folgenden Produktionen ab. Die neue Blu-ray sollte daher in keiner gut sortierten Italo-Sammlung fehlen.
4/5


mm
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