Unter den Dächern von St. Pauli

 
  • Deutscher Titel: Unter den Dächern von St. Pauli
  • Original-Titel: Unter den Dächern von St. Pauli
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  • Regie: Alfred Weidenmann
  • Land: BR Deutschland
  • Jahr: 1970
  • Darsteller:

    Jean-Claude Pascal (Dr. Pasuche), Janie Murray (Binnie), Joseph Offenbach (Himboldt), Werner Peters (Hausach), Charles Regnier (Clubbesitzer), Alfred Schieske (Egon Mills), Walter Bluhm (Schnapsbruder), Ralf Schermoly (Harry), Gernot Endemann (Herzberg), Kathrin Ackermann (Verena), Manfred Seipold (Willy), Inger Zielke (Inge), Bernd Redecker (Robert), Christa Siems (Binnies Mutter)


Vorwort

Hamburg ist komisch. Schön, fraglos, aber komisch. Gut, so wird man vermutlich bei 300 Tagen Regenwetter im Jahr und einer etwas einseitigen Fischdiät. Jede größere Stadt und ganz besonders jede Hafenstadt hat ihren Rotlichtbezirk, das ist keine Frage, der Seemann, der gerade ein halbes Jahr über die Weltmeere geschippert ist, muss ja irgendwo den Samenüberdruck abbauen. Während jedoch die meisten Städte, die etwas auf sich halten, die Existenz ihres jeweiligen Sündenpfuhls tunlichst kleinreden oder schamhaft verschweigen, ist man an der Waterkant bannich stolz auf die rote Meile, den Kiez zwischen Millerntor und Davidswache, kurzum, auf St. Pauli, und etabliert die Gegend, die jeder andere am liebsten absperren oder wegbomben würde, als Touristenattraktion, wo man ohne schlechtes Gewissen Nutten kucken gehen kann… St. Pauli ist nicht nur ein Kiez und ein alternatives Lebensgefühl, sondern auch eine Marke, mit der man Bier ebenso verkaufen kann wie Pornomagazine und, logisch, Filme.
 
Natürlich ist St. Pauli anno 2020 nicht mehr das St. Pauli von 1970 und die „Szene“ fest in der Hand von Balkanclans, aber auch das reale St. Pauli 1970 hatte freilich nur am Rande mit der idealisierten bis dezent glorifizierenden Darstellung in Jürgen Rolands St. Pauli-Filmen, die für ein paar Jahre ein eigenständiges Subgenre des deutschen Sleaze- und Kriminalfilms bildeten, zu tun. Zuhälter mit Herz aus Gold, die vielleicht nach den Buchstaben des Gesetzes kriminell waren, aber doch als Eckpfeiler der Community für Recht und Ordnung sorgten, wo die Polizei es nicht wagte oder konnte, dürften auch zur Blütezeit des Pauli-Reißers im echten Leben in der Minderheit gewesen sein. So gesehen ist es schon einigermaßen entspannend, wenn einer dieser Filme versucht, ein, hämpt-hämpt, realistischeres Bild der sündigen Meile zu zeichnen und darzulegen, dass das ganze Rumgehure und –gelude auf der Reeperbahn nicht nur ein einzig Zuckerschlecken sein könnte.
 
Hierfür zuständig erachtete sich Herbert Reinecker, Deutschlands wohl fleißigster Fernsehkrimischreiberling, die Inszenierung übernahm der alte Profi Alfred Weidenmann, der noch dem Führer wohlgefällige Propagandaschinken wie JUNGE ADLER gedreht hatte, komischerweise aber nie den gesellschaftlichen und beruflichen Backlash wie Veit Harlan über sich ergehen lassen musste (naja, gut, JUD SÜSS ist dann halt doch noch ein anderes Kaliber als ein Durchhaltefilm wie JUNGE ADLER). Während die Roland-Krimis sich eines im Großen und Ganzen liebevollen Rufs erfreuen und in hochklassigen restaurierten Versionen vertickt werden, muss Weidenmanns Film mit einem ranzigen Güllerelease aus dem Hause „Lighthouse“ vorlieb nehmen. Gut, dafür kostet die Scheibe nur 5 Euro und nicht 25. Man kann nicht alles haben…


Inhalt

UNTER DEN DÄCHERN VON ST. PAULI versteht sich als eine Art altman-eskes slice-of-life-Drama, das 24 Stunden aufm Kiez abbildet und hierbei primär parallel vier Episoden erzählt, die sich gelegentlich verschneiden und zusammenlaufen. For a better reading experience halte ich mich mal nicht an eine „chronologische“ Nacherzählung des Films, sondern behandele die Episoden getrennt, sortiert nach umgekehrter Bedeutung für das „Gesamtkunstwerk“.
 
Da haben wir zunächst mal eine Gruppe Abiturienten, die von ihrem verknöcherten (und halbtoten) Studienrat Dr. Himboldt (Joseph Offenbach, DER HAUPTMANN VON KÖPENICK, DAS MÄDCHEN VOM MOORHOF) großzügigerweise einmal über die Sündenmeile geführt werden, Reeperbahn einmal rauf und einmal runter, das soll reichen, bevor die Schülerinnen und Schüler noch vom Anblick der Nutten und der Bumslokale sittlich und ethisch desorientiert werden. Da hat Himboldt aber die Rechnung ohne seine Schüler, und ganz besondere unter den windigsten Windhund der Klasse, Herzberg (Gernot Endemann, 28 Lenze jung zum Dreh, DIE UVNERBESSERLICHEN, MANDARA), gemacht. Der nämlich beabsichtigt, ein kleines Spässken mit dem Gruftbewohner-auf-Urlaub zu machen. Gegen eine kleine Geldspende, für die die Klasse solidarisch zusammengelegt hat, soll die Hure Verena (Kathrin Ackermann, HERRLICHE ZEITEN IM SPESSART, ICH AUF BESTELLUNG) den Mümmelgreis aufs Kreuz legen…
Die Gelegenheit bietet sich in einer Bierhalle, in der zum Gaudium der versammelten Saufköpfe jeden Tag Oktoberfest gespielt wird. Malle war 1970 offenbar noch nicht erfunden. Herzberg und die Seinen überreden Himboldt, dass man in Rom ja tun wie die Römer usw. und mithin sich dem allgemeinen Trunke nicht verschließen dürfe. Bei Bier geht Himboldt ja noch mit, aber bei den Klaren, die unverlangt am Tisch landen, würde er dann doch die metaphorische Linie in den Sand kratzen. Bleibt aber bei „würde“, denn nun meldet sich übers Tischtelefon (auch das sind Sachen, die die Jugend von heute aus gleich mehreren Gründen nicht mehr kapieren wird) Verena und lädt sich, mit gewisser Hilfe Herzbergs, an den offiziellen Schultisch ein. In attraktiver Gesellschaft blüht auch Himboldt sauftechnisch auf, und am Ende des Abends verpflichtet sich der Studienrat, Gentleman alter Schule, die holde Mail nach Hause zu bringen. Die Schüler werden ja schon selbst zum Hotel zurückfinden. Verena bringt den alten Knacker dazu, sie in ihre Wohnung zu begleiten…
 
… und am nächsten Morgen wacht ein von den Geschehnissen der Nacht gelinde überwältigter Lehrer in Verenas Bettchen auf und nimmt nicht nur schockiert zur Kenntnis, dass er ganz offensichtlich hier übernachtet hat, sondern auch noch eine nicht unwesentliche Menge Bölkstoff zu sich genommen und, zumindest meint Verena nichts Gegenteiliges zu diesem Themenkomplex aussagen zu können, auch die ein oder andere Nummer mit der kessen Biene geschoben hat (Respekt. Und das ohne Viagra). Himboldt lässt sich aufgelöst ein Taxi bestellen und eilt zum Hotel – wo er seine Schüler, die die Nacht offensichtlich erfolgreich zum Tag gemacht haben, nicht auf ihren jeweiligen Zimmern, sondern  vollzählig auf der Mädchenstube vorfindet. Die von Himboldt deutlich gemachte allgemeine Unmoral der Situation wird von Herzberg locker beiseite gewischt – wer selbst die Nacht bei einer Dame des horizontalen Gewerbes verbracht hat, der kann’s Maul nicht weit aufreißen, oder?  Himboldt ist vom Donner gerührt, fragt sich und die Blagen zu recht, warum die Klasse 200 Mark ihres sauer unverdienten Taschengelds in die Demütigung des alten Paukers investiert hat. Nun, die Antwort ist simpel – die Abiprüfungen stehen vor der Tür, und dass Himboldts nächtliches Abenteuer ein Geheimnis bleibt, wird dem Herrn Studienrat doch eine Fuhre allerbester Noten wert sein… Der Lehrer reagiert unerwartet mit sofortiger Subtraktion seines Astralkörpers vom Hotelgeläuf – doch auch Verena bekommt die Konsequenzen ihres Verhaltens zu spüren. Ihr Zuhälter und Freund (Freundhälter?) ist nämlich wenig begeistert davon, dass Verena sich die ganze Nacht mit dem Tattergreis – und das deutlich unter Tarif – um die Ohren und andere Körperteile geschlagen hat. Das Schlagen übernimmt dann er, aber wie das im Leben so ist, Pack schlägt sich usw., und eine Minute nach der Prügel liegt sich das Paar sich gegenseitig abschmatzend und prä-kopulierend in den Armen.
 
Himboldt dagegen begibt sich auf eine ausgiebige Odyssee über den Kiez, frönt dem Alkohol auch schon vormittags, betätigt sich beim Ponyreiten für Kinder und landet schließlich, ordentlich abgefüllt, aber wissbegierig, bei einer Horde Nutten im Schaufenster, um die Gründe für ihre Berufswahl eingehend zu eruieren. Mittlerweile geht den Schülern ein wenig die Muffe ob des Verschwindens des Tattergreises, und spät am Abend entdecken sie ihn dann tatsächlich in der fröhlichen Damenrunde hockend. Da gibt’s zuerst natürlich großes Hallo und Gegröhle, bis es den Türstehern des Laufhauses zu bunt wird und die darangehen, die jugendlichen Störenfriede handgreiflich zu verscheuchen. Das Handgemenge droht in eine Massenschlägerei auszuarten, bis sich Himboldt auf die Seite seiner Schüler stellt und die sich geläutert vor ihn stellen, als die Kiezganoven sich den alten Mann vorzuknöpfen drohen…
 
Auf der Davidswache meldet sich ein verzweifelter Vater – Egon Mills (Alfred Schieske, JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN, NACHT DER ENTSCHEIDUNG) vermisst sein Töchterlein Agnes (Alena Penz, STROSSTRUPP VENUS BLÄST ZUM ANGRIFF, LIEBESJAGD DURCH SIEBEN BETTEN). Das Gör ist ausgerissen und treibt sich mutmaßlich in schlechter Gesellschaft auf dem Kiez herum. Der Papa befürchtet das Schlimmste, und Polizeiwachtmeister Willy (Manfred Seipold, DAS HERZ ALLER DINGE, WETTLAUF NACH BOMBAY), ein joviales Gemüt, kann ihm zwar keine großen Versprechungen machen, aber er will sein Bestes tun. Kann er auch, denn der Kiez ist bei aller Freundschaft doch irgendwie `n Dorf und wenn irgendwo Frischfleisch angeliefert wird, spricht sich das rum. Und so kann Willy Egon bald zu einem Nachtclub führen, dessen Besitzer (Charles Regnier, HERRIN DER WELT – ANGKOR VAT, DER SCHWARZE ABT) gerade Auditions für die neue Runde ambitionierter Stripperinnen durchführt. Und Agnes ist da in prominenter Rolle dabei. Willy und Egon unterbinden weiteres Rumgehopse unter den gestrengen Augen von Striptease-Lehrer Rene Durand (PANKOW `95, DOROTHEAS RACHE) mit dem stichhaltigen Argument, dass Agnes noch keine 18 ist. Dem kann sich selbst der Clubchef nicht entziehen – eine Minderjährige kann nur mit Einwilligung der Erziehungsberechtigten tanzen (hui!), und Egon stellt klar, dass es diese Genehmigung nur über seine Leiche gibt. Nun wäre das auf dem Kiez eine Sache, die grundsätzlich durchaus arrangiert werden könnte, aber der Clubchef hat andere Vorstellungen. Er weiß, wie man einen renitenten Vater umstimmen kann – im Zweifel über die Brieftasche. 50 Mark am Abend könnte Agnes mit ihrer tollen Figur (najaa) schon mal als Einstiegsgehalt verdienen, und mit ein bisschen guten Willen können das auch gerne mal 100 Kieselsteine werden. Da wird der alte Herr dann doch schon nachdenklich…
Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft und weil dem rivalisierenden Nachtclubbesitzer Leo (Horst Hesslein, 4 SCHLÜSSEL, DER GROSSE BELLHEIM) seine Starattraktion terminal unpässlich geworden ist (dazu kommen wir noch), braucht er dringend Ersatz und auch zu ihm hat sich rumgesprochen, dass ein neues rattenscharfes Talent am Start ist. Zwar freundet sich Egon langsam mit dem Gedanken an, dass der Töchtling gegen bare Penunze allnächtlich die Teenie-Titten schwingen lässt, aber moralisch ist ihm das irgendwo immer noch nicht recht. „Das ist doch nix Schönes, da hat man doch nix von“, rambuliert er während einer Demonstrationsdarbietung von Agnes. Leo findet das ganz prima und engagiert Egon gleich mit, damit er zukünftig während Agnes‘ Auftritten seine deprimierenden Moralinmonologe hält…
 
Stichwort terminal unpässliche Starattraktion. Das wäre eine gewisse Frau Pasucha (Marie Claude Jourdain aka „Lova Moor“, DIE GIRLS VOM CRAZY HORSE, EIN TOTAL VERSAUTES WOCHENENDE), die, wie gesagt, in Leos Club die große Nummer ist und allabendlich das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißt, die ich ausnahmsweise ob ihres wirklich scharfen Auftritts im Nieten- und Lederoutfit nachvollziehen kann. Einer der Gäste ist allerdings eher so mittelbegeistert von der Performance, und das ist ihr Ehemann Dr. Pasucha (der französische Chansonnier und Schlagerbarde Jean-Claude Pascal, DIE SCHÖNE LÜGNERIN, VERSAILLES – KÖNIGE UND FRAUEN), der, weil er einem anderen Gast blickmäßig im Weg steht, eine Schlägerei anzettelt und unsanft vor die Clubtür gesetzt wird. Der Doktor schafft es immerhin, sein ihm entfremdetes Frauchen nach Hause in ihre Wohnung zu fahren, aber dass er mit raufkommen darf, steht völlig außer Frage…
Am nächsten Morgen will sich die junge Inge Wolf (Inger Zielke, FRISCH, FROMM, FRÖHLICH, FREI, ICH BIN NICHT DER EIFFELTURM) bei Frau Pasucha als Hausmädchen vorstellen. Als sie die Wohnung entert, sieht sie allerdings erstmal den lieben Herrn Doktor, der sich über die frisch von ihm erschossene Gattin beugt. Der noch rauchende Schießprügel ist ein ausgezeichneter Argumentationsverstärker hinsichtlich Pasuchas frommen Wunsch, Inge möchte a) die Klappe halten, sich b) auch anderweitig ruhig verhalten und c) ihn als Geisel bei einigen Besorgungen, die er noch zu erledigen hat, zu begleiten. Pasucha möchte sich nämlich nach Paris absetzen,  hat seine eigene Hauswirtschafterin schon den Koffer packen lassen und hebt seine gesammelte Barschaft von rund 40.000 Piepen von der Bank ab. Allerdings sind ihm ein bis zwei Dinge klar – die Polizei wird die Dahingeschiedene in Bälde finden und um einen passenden Hauptverdächtigen zu finden, muss man nicht mal ein besonderes intelligenter Bulle sein. Was Pasucha braucht, ist ein falscher Pass, und sowas bekommt man auch und gerade auf St. Pauli am ehesten in Gangsterkreisen. Nun ist es anerkanntermaßen so, dass man aufm Kiez nicht lange nach einem Gangster suchen muss. Schon am ersten Bumslokal, bei dem Pasucha anfragt, gerät er mit dem Ganoven Theo (Helge Grau, DIE HERREN MIT DER HEISSEN WESTE, DIE KLEINSTE SCHAU DER WELT) an einen interessierten Geschäftspartner, nicht zuletzt aufgrund er in Aussicht gestellten Barzahlung von 5.000 stabilen Deutschmark. Theo dirigiert Pasucha an einen abgelegenen Treffpunkt irgendwo in den Hafendocks, wo der Gattinnenmörder peinlich berührt feststellt, dass er ordentlich über den Tisch gezogen werden soll. Von einem Reisepass ist nämlich nicht die Rede, vielmehr wollen Theo, Bernie (Hans Waldherr, DYNAMIT IN GRÜNER SEIDE, OPERATION TAIFUN) und ihr Chef Hausach (Werner Peters, NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM, DIE TOTE AUS DER THEMSE), der ungekrönte Gaunerkönig von St. Pauli, Pasuchas gesamte Kohle ohne hierfür eine Gegenleistung anzubieten, die über eine ordentliche Tracht Prügel hinausgeht. Pasucha wehrt sich verbissen, doch drei gegen einen ist fair game und am Ende der Keilerei hat der liebe Doktor nicht mal mehr die drei Pfennig Wechselgeld von der Bank. Ordentlich aufs Maul geschlagen, lässt Pasucha wenigstens Inge laufen.
Für ihren Freund Robert (Bernd Redecker, LIEBE IST NUR EIN WORT, LIEBE, SO SCHÖN WIE LIEBE) ist Inges Erlebnis ein mächtig spannendes Abenteuer. Die Polizei sucht Pasucha, und der ist stinksauer. Mit Hilfe eines kiezbekannten Tippelbruders (Walter Bluhm, DER MANTEL, LORD ARTHUR SAVILES VERBRECHEN), der sich von Freischnaps zu Freischnaps durchhangelt und jeder interessierten Partei gegen einen kleinen Schluck oder ne Mark fuffzich für den nächsten Kurzen als Informant zur Verfügung steht, versucht er die Diebe seines Vermögens aufzutreiben. Das ist allerdings zwangsläufig damit verbunden, dass er seinen beträchtlichen Zinken an die öffentliche Luft hält und da sein Bild bereits im Abendblatt abgedruckt ist, hat das fatale Folgen – insbesondere, als Inge und Robert ihm über den Weg laufen und Robert spontan einen Lynchmob aufstachelt. Umzingelt von Polizei und blutrünstigen Schaulustigen sieht Pasucha keine andere Chance, als sich selbst eine Kugel ins Herz zu jagen. Inge ist bestürzt und schickt an Ort und Stelle Robert in die Wüste…
 
Vor dem Großen Schwurgericht der Hansestadt wird der Mord an einer gewissen Marie, einer im Gesamtgefüge der Stadt sicher nicht sonderlich bemerkenswerten Hure, verhandelt. Der Angeklagte – und selbstverständlich schuldig wie die Sünde himself – ist der bewusste Kiezkönig Hausach, und dank der ihn stark belastenden Aussage von Maries Ehemann Harry (Ralf Schermuly, DER EISMANN KOMMT, ODYSSEUS AUF OGYGIA), einem Bänkelsänger, der in den Kneipen der Stadt Seemanslieder klampft, und Marie eigentlich rausgeschmissen hatte, weil die ihren alten nuttigen Lebenswandel wieder aufnahm, sieht der Staatsanwalt Hausach schon so gut wie sicher hinter hanseatischen Gardinen. Doch am letzten Prozesstag zaubert Hausach stantepete zwei Entlastungszeugen aus dem Ärmel – Theo und Bernie, die selbstverständlich jeden Meineid schwören, dass Hausach am Tag der Tat mindestens, wenn nicht noch weiter weg vom Tatort und der Ermörderten aufenthaltig war. Jedem und seinem stupiden Bruder ist klar, dass Theo und Bernie lügen, dass sich die Balken nicht nur biegen oder brechen, aber wer schwört, der schwört, und das Gericht hat keine andere Wahl als Hausach frei wie der Wind nach Hause zu schicken.
Harry ist frustriert – wie gesagt, er war zwar nicht mehr mit Marie zusammen und mit der flotten Biene Binnie (Janie Murray, LOVE AFFAIR, ACH DU SCHRECK, MEIN MANN IST WEG) hat er auch längst eine allemal hochgradig adäquate Ersatzfrau am Start, aber nicht nur, dass es ihn aus Prinzip mächtig ankotzt, dass Hausach ungeschoren aus der Nummer herauskommt, hegt er halt doch noch Gefühle für seine Ex und ist daher nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen, auch wenn Binnie und ihre Mutti (Christa Siems, BEI PICHLER STIMMT DIE KASSE NICHT, 4 SCHLÜSSEL), bei der sich das junge Paar eingenistet hat, dringend dazu raten würden. Wie auch Harrys Bruder, der schon erwähnte Davidswachenpolyp Willy.
Hindert Harry nicht daran, mal bei Theo anzuklopfen, was denn die ganze Falschaussage eigentlich sollte. Dumme Fragen bringen dumme Antworten, und die hiesige dumme Antwort lautet „aufs Maul“.  Harry zieht sich erst mal zurück in die heimische Bude, bekommt dort allerdings bald Besuch von Hausach nebst Komplizen, die noch einmal freundlich darauf hinweisen, dass die Sache juristisch ausdiskutiert ist, eh nur ein nicht beabsichtigter Unglücksfall gewesen sei und sich Harry bei etwaigen Reklamationen gern gehackt legen kann, und notfalls würden Hausachs Kiezklopper das mit dem Hacken übernehmen. Dass der Buschfunk auf der Meile trommelt, Harry habe sich eine eigene Kugelgebe besorgt, wurde zur Kenntnis genommen, versichern die Ganoven, was an der Sach- und Rechtslage aber nichts ändere. Binnie ist angemessen entsetzt – hat Harry sich tatsächlich eine Bleispritze zugelegt? Harry verweigert die Aussage.
Am Abend zupft Harry in Hausachs Leib- und Magenstammkneipe das schöne Lied vom besoffenen Seemann. Hausach versucht einen auf bygones-are-bygones zu machen und mit einem Freibier oder zwei einen Schlussstrich unter die Affäre zu ziehen, aber Harry zieht nicht mit, auch wenn die versammelte Kneipenbelegschaft das für eine eher blöde Idee hält, weil einer allein, so angepisst er auch sein mag, gegen den großen Oberguru des kriminellen Halblebens auf der Reeperbahn im Zweifelsfall immer den Kürzeren ziehen wird. Doch das Schicksal hat andere Pläne…
Die Sichtung eines gewissen gesuchten Mörders auf offener Straße sorgt für allgemeines Chaos und einer größeren Zusammenrottung von Uniformierten und sensationssüchtigen Gaffern auf dem Spielbudenplatz. Für Hausach ist dieser Aufstand eher uninteressant – er treibt sich in einer Nebenstraße herum, wo er von Harry konfrontiert wird. Und der hat sich, wie Hausach zu seinem (kurzen, aber immerhin) Leidwesen feststellen muss, wirklich einen Menschenlocher organisiert…
 
 
Wie ganz oben schon gesagt müht sich UNTER DEN DÄCHERN VON ST. PAULI um einen etwas realistischeren Blick auf die Um- und sonstigen Triebe rund um den sündigsten Kiez der Republik, aber es ist halt einfach so – realistisch, schmealistisch, das allein macht weder einen guten noch, ganz besonders, einen unterhaltsamen Film aus. Im Vergleich zu Jürgen Rolands bereits zitierten St.Pauli-Reißern ist Alfred Weidenmanns Film kein Rohrkrepierer, zieht die Wurst jedoch nicht sonderlich energisch vom Teller.
 
Das liegt nicht am guten Willen – Reineckers Gedanke, vier Episoden von völlig unterschiedlicher Gewichtung und Gravitas zu erzählen und da und hie zu verschränken, bis sie zu einem (mehr oder weniger) gemeinsamen Finale zusammenlaufen, ist nicht verkehrt und hat in der Tat etwas von den großen Ensemble-Stücken Robert Altmans, in denen sich die Figuren aus den unterschiedlichen handlungssträngen ständig gegenseitig über den Weg laufen. Leider ist die Qualität dieser Episoden höchst unterschiedlich, und leider nicht in dem Verhältnis des Raums, den sie im Film einnehmen. Nehmen wir z.B. die Geschichte um Agnes und Egon Mills – die nimmt nicht viel Platz ein (vielleicht 10-15 Minuten), und mehr gibt sie auch nicht her.  Eine kleine Tittenschau (mit der für meine Begriffe sehr fragwürdigen Auffassung, dass „Nackttanzen unter 18“ erlaubt ist, wenn die Eltern nix dagegen haben…) und dem Gag, dass der Herr Vater nicht nur der schnöden Kohle wegen ins Grübeln kommt, sondern am Ende noch in den Act seiner Tochter integriert wird. Tut nicht sonderlich weh (mit einem Caveat, auf den ich weiter unten noch zu sprechen kommen werden), hält den Betrieb nur zwei-dreimal auf, macht aber auch nicht wirklich viel dafür, um sich als integral wichtiger Teil des Films, den man nicht mit Freuden hätte herausschneiden können, zu präsentieren.
Die Story um den alten Lehrer Böck, äh, Himboldt, ist dagegen… ziemlich furchtbar. Nicht nur, dass Reinecker und Weidenmann ihr zumindest gefühlt die meiste Zeit einräumen (das *kann* einem natürlich auch nur so vorkommen, weil die Geschicht‘ so furchtbar ist), nervt sie spätestens nach dem zweiten Besuch in diesem Handlungsstrang. Den Lehrer verarschen und ins Nuttenbett schicken, okay, ihn danach damit aufziehen, okay, das hätte ich noch halbwegs gefressen (auch wenn hier der gleiche Einspruch zu erheben ist, den ich schon zur vorigen Episode angekündigt habe), aber dann auch noch den „Zusammenbruch“ des alten Mannes zu zelebrieren, der ziel- und hilflos über die Amüsiermeile wankt und sich zum Affen und allgemeinen Gespött macht, ist mir für einen „Unterhaltungsfilm“ nicht nur zu zynisch, es ist, und das ist der tödlichere Vorwurf, auch langweilig und reißt immer wieder aus den eigentlich interessanteren Handlungssträngen heraus.
Die beiden theoretisch wichtigsten Plots wären der um die beiden grundverschiedenen Frauenmörder – Pasuche, der nicht verkraftet hat, dass seine Frau den ihr von ihm zur Verfügung gestellten Luxus nicht goutieren mochte und sich lieber fremden Männern zur Schau stellt, sich in seiner männlichen Ehre gekränkt fühlt und für Mord den höchsten Preis zu zahlen hat, und Hausach, der – vielleicht mehr oder weniger versehentlich –  die Nutte Marie abgemurkst hat und sich nun den Nachstellungen Harrys ausgesetzt sieht. Die zwei Geschichten gäben, wenn man’s drauf angelegt hätte, locker genug Plot her, um die 85 Minuten Laufzeit auch ohne Nebenkriegsschauplätze zu füllen, aber dann wäre der Film eben seines „slice of life“-Anspruchs verlustig gegangen – und den hielten die Macher wohl für unverzichtbar. Dabei könnte gerade der Pasuche-Subplot sicher etwas mehr Fleisch vertragen, da geschieht alles recht plötzlich, der Mord, die Geiselnahme Inges, Pasuches halbherziger Versuch, sich irgendwie an Hausach und seinen Schergen zu rächen (wenn der von Harry wüsste…), das wirkt alles irgendwie unfertig, first-draft-mäßig. Der Plot um Harry und Hausach rollt am flüssigsten, da wirken auch die Charaktere und Motivationen stimmig.

Von Seite der Inszenierung überzeugt mich der Veteran Weidenmann nicht wirklich – dass der Film für mein Gefühl oft die falschen Schwerpunkte, den falschen Fokus setzt, liegt natürlich auch am Script, aber Weidenmanns Regie bekommt es einfach nicht wirklich hin, die entscheidenden Momente im Film wirklich gekonnt in Szene zu setzen – wenn Hausach Harry verprügeln lässt oder Pasuche (was ist das überhaupt für ein Name?) abzockt, schindet das auch filmisch nicht wirklich Eindruck, das plätschert alles in eher gemächlichen Tempo vor sich hin und wenn dann die Handlungsfäden im Finale zusammenlaufen (oder, was den Egon- und Agnes-Plot angeht, auch nicht), kommt weniger das Gefühl des großen dramatischen Höhepunkts, auf den alles zugesteuert hat, auf als das des „na, endlich kommen wir mal zum Punkt“. Die Kameraarbeit von Karl Löb, auch einem alten Haudegen, der eine ganze Latte an Wallace-Krimis und Karl-May-Adaptionen fotografierte, wirkt seltsam leblos und flach – ich hätte glatt gesagt, Löb wäre ein s/w-Spezialist gewesen, der mit Farbe nicht so viel anfangen konnte, aber UNTER GEIERN oder OLD SUREHAND konnte man wahrhaftig nicht nachsagen, dass sie in s/w genauso schön oder schöner ausgesehen hätten als im schönsten Eastmancolor. Die Versuche, mit Montagen der Neonreklamen der Reeperbahn ein bisschen „Tschörman Vegas“-Feeling aufkommen zu lassen, retten wenig – zum Leben erwacht der Film fotografisch eigentlich nur in Marie Jourdains aufregender Strip-Sequenz, aber die kommt halt gleich am Anfang, und danach ist alles recht trüb und freudlos (was aber auch am schier furchtbaren Print der DVD-Veröffentlichung liegen kann).

Was mich besonders schmerzt – zum ersten Mal in meiner langen filmischen Bekanntschaft mit Peter Thomas ging mir einer seiner Scores so nach dreißig, vierzig Minuten bedenklich auf die Nerven. Nicht, dass der Score so völlig neben seinem üblichen Stil liegen würde, irgendwie klingt das aber alles nach Material, das Thomas mal als zu schwach aussortiert hatte und jetzt verwurstete.

UNTER DEN DÄCHERN VON ST. PAULI ist nicht sonderlich sleazig oder gewalttätig (ganz im Gegensatz zu den Versprechungen des Klappentexts). Ja, es gibt ein paar nackte Brüste, aber wer das nicht grundsätzlich spektakulär findet, erlebt hier auch keine Aha-Erlebnisse („Das ist doch nix Schönes“, wie Egon Mills sagt, ist vielleicht etwas zu hart ausgedrückt, aber abgesehen von Marie Jourdain entgeht einem jetzt auch nichts Denkwürdiges, wenn man in den Nacktszenen wegkuckt).

Eine Erwähnung wert ist vielleicht noch Produzent Reginald Puhl. Der ist wohl zu Unrecht vergessen worden, ist er als „Aufklärungsfilmer“ doch vier Jahre früher dran gewesen als der gepriesene und gefeierte Oswalt Kolle. 1964, deutlich vor Kolles ersten Versuchen, dem Deutschen auf der Leinwand das mit dem Sex näher zu bringen, begann Puhl mit der Produktion von Dokus wie WAS MÄNNER NICHT WISSEN MÜSSEN, DIE WELT DER FRAU oder DU – ZWISCHENZEICHEN DER SEXUALITÄT. Vom „seriösen“ wissenschaftlichen Aufklärungsfilm zum Hersteller richtiger Spielfilme war’s ein kurzer Weg. 1969 schickte er Jochen Busse in die TV-Komödie HILFE, ICH BIN NOCH JUNGFRAU, und 1971 ging Freddy Quinn ein letztes Mal im Kino auf eine FAHRT INS ABENTEUER, produziert von Puhl und geschrieben von Rolf Olsen. 1976 produzierte er die obligatorische Hitler-Doku DER WEG ZUM FELDHERRN, brachte in den 80ern zwei irgendwie leicht pornografisch müffelnde Vehikel für Janie Murray in die Kinos und recyclete dann nach dem spektakulären Erfolg der AUFKLÄRUNGSROLLE seine eigenen Frühwerke mit dem Kompilationsfilm HURRA, WIR WERDEN AUFGEKLÄRT, von dem er 2016 sogar noch eine dreiteilige TV-Fassung für den SWR erstellte.

Kommen wir noch zum hocherfreulichen Thema Thespiskunst. Jürgen Rolands Filmen kann man das ein oder andere vorwerfen, aber nicht die vortreffliche Besetzung. In UNTER DEN DÄCHERN VON ST. PAULI reicht die Cast-Bewertung von „geht so“ bis „positiv furchtbar“ mit der Ausnahme von Werner Peters. Der wurde ja dazu geboren, schmierige Gangstertypen zu spielen und tat dies ja auch mit großem Erfolg in den Weinert-Wilton-Krimis oder in Alfred Vohrers PERRAK. Hier ist er schauspielerisch gesehen das einzige Highlight, wobei die Rolle nun auch nicht gesonders gehaltvoll wäre oder ein kniffliges Anforderungsprofil stellen würde – er muss da einfach nur ein best-of seiner üblichen Charaktere, skrupellos und arrogant, wenn er sich am Drücker weiß, jämmerlicher Waschlappen, wenn am kürzeren Ende des Stricks hängend, geben.

Marie Jourdain, extra importiert von der Crazy-Horse-Revue aus Paris (und also mitnichten eine echte Star-Attraktion auf Pauli), bringt zumindest etwas verruchten französischen Charme ein, wird aber nach zwei Szenen abserviert. Ihr Film-Mann, der französische Crooner Jean-Claude Pascal, der seit den 50ern auf Leinwand und im Musikgeschäft Erfolge feierte (1961 gewann er für Luxemburg den Eurovision Song Contest, und seinen 1969er-Erfolgstitel „Gefangen“ hatte meine liebe Mutti in ihrer Plattensammlung, der Song war deshalb ein nicht wegzudiskutierender Teil meiner frühkindlichen musikalischen Sozialisation, for better or worse) fühlt sich in der Rolle des Pasuche sichtlich unwohl. Pascal sieht auch ungefähr 15 Jahre älter aus als die 47 Lenze, die er zum Drehzeitpunkt auf dem Buckel hatte (im Gegensatz zu manch anderem Darsteller des Films hielt er aber noch tapfer durch und warf erst 1992 den Löffel) – und insgesamt wirkt er einfach völlig unglaubwürdig.

Aber immer noch besser als die praktisch vom Totenbett wegrekrutierten Joseph Offenbach (Himboldt) und Alfred Schieske, die mit ihren mehr-tot-als-lebendig-Darbietungen hauptsächlich Mitleid erregen. Janie Murray, Ralf Schermuly, Gernot Endemann, Inger Zielke und der Rest sind eben so okay. Es hilft der ganzen Chose sicher nicht, dass ungefähr der halbe Cast nachsynchronisiert wurde (das bringt uns aber wenigstens in den Genuss der Stimmen von Claus Biederstaedt, Norbert Langer, Ilja Richter, Rolf Mamero, Almut Eggert oder Brigtte Grothum. Wenn man gleich die besetzt hätte, wäre das vermutlich für alle Beteiligten besser gewesen…).

Die DVD aus dem Hause Lighthouse ist schändlich. Den 1.66:1-Print hat man in 4:3-Letterbox-Format geprügelt, was aber vielleicht noch ein Gnadenakt war, denn das Master hat man offenbar direkt aus dem Lokus vom Goldenen Handschuh gezogen, abgenudelt, verdreckt, mit Defekten übersät.

Als „authentischer“ Blick auf die sündige Meile, auf der eben doch nicht alles so Eitel Freude Sonnenschein und nette Luden war, wie’s die Roland-Filme behaupteten, mag UNTER DEN DÄCHERN VON ST. PAULI ehrlicher sein als die bekannteren Kiez-Klopper, als Film jedoch bringt der Streifen nur begrenzten Spaß. Ein unrund, unfertig wirkend irrlichterndes Drehbuch, das falsche Akzente setzt, teilweise gruselige darstellerische Leistungen und eine dröge, einfallsarme Inszenierung lassen mich zur Katholischer-Filmdienst-genehmigten Schlussfolgerung kommen: Wir raten ab.

© 2020 Dr. Acula


BOMBEN-Skala: 7

BIER-Skala: 4


mm
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Diamond Bentley
Editor
Diamond Bentley
15. April 2020 23:44

Alles mit „St. Pauli“ im Titel ist prinzipiell super.