Tunnel der lebenden Leichen

 
  • Deutscher Titel: Tunnel der lebenden Leichen
  • Original-Titel: Death Line
  • Alternative Titel: Raw Meat |
  • Regie: Gary Sherman
  • Land: Großbritannien
  • Jahr: 1972
  • Darsteller:

    Donald Pleasence (Inspector Calhoun), Norman Rossington (Detective Sergeant Rogers), David Ladd (Alex Campbell), Sharon Gurney (Patricia Wilson), Hugh Armstrong (Der „Mann“), June Turner (Die „Frau“), Clive Swift (Inspector Richardson), James Cossins (James Manfred, OBE), Heather Stoney (Marshall), Hugh Dickson (Dr. Bacon), Christopher Lee (Stratton-Villiers, MI5)


Vorwort

London Underground – die Studenten Alan und Patricia finden, als sie aus der letzten U-Bahn ausgestiegen sind, einen bewusstlosen Mann auf der Treppe liegen. Alan, seines Zeichens New Yorker und so manchen Kummer im öffentlichen Nahverkehr gewohnt, hält den Knaben für einen ordinären Besoffski und nicht weiter der Rede wert, Patricia allerdings ist Philanthropin und besteht darauf, dass dem Gestrauchelten Hilfe angediehen wird. Bis das Studentenduo allerdings Hilfe organisiert hat, ist der Hilfsbedürftige verschwunden… Normalerweise nichts, worüber sich Inspektor Calhoun ’nen gesteigerten Kopf machen würde, wäre der Verschwundene nicht James Manfred, OBE (Order of the British Empire), hoher Ministerialbeamter und Geheimnisträger, sowie nicht der erste unaufgeklärte Vermisstenfall in engem Zusammenhang mit der betreffenden U-Bahn-Station. Grund genug für den Inspektor, herumzustöbern, auch wenn ihm seitens des Geheimdiensts MI5 deutlich zu verstehen gegeben wird, dass der Fall eben wegen der ganzen Geheimnisträgerei nicht in seine Jurisdiktion fällt. Zum „Glück“ für Calhoun ereignet sich in der U-Bahn-Station wenig später ein brutaler Doppelmord und wie die Pathologie herausfindet, ist der Mörder nicht nur verdächtig stark (stark genug, um einen normalen Besenstiel mittschiffs durch einen ausgewachsenen Mann zu rammen), sondern auch noch Träger der wässrigen Beulenpest (aber wenigstens nicht ansteckend, solang man nicht von ihm gebissen wird).

Die personifizierte Pestbeule ist ein degenerierter Inzest-Krüppel und letzter Nachfahre einer Gruppe vor knapp hundert Jahren verschütterter Bauarbeiter, die es sich notgedrungermaßen in den labyrinthischen Schächten des Undergrounds eingerichtet haben und sich primär von arglosen U-Bahn-Fahrern ernähren – und momentan ist er ganz besonders mies gelaunt, weil seine Gefährtin den Exitus eingereicht hat. Die vakante Leerstelle in seinem Leben soll umgehend neu besetzt werden, und Patricia kommt ihm da grad recht…


Inhalt

Wenden wir uns mal wieder einem Halbklassiker zu, über den wahrscheinlich erheblich mehr Leute etwas gelesen oder irgendwie gehört, als ihn tatsächlich mit eigenen Augen betrachtet haben. „Tunnel der lebenden Leichen“ (selbstredend gibt’s im Film keinerlei lebenden Leichen, das hat sich mal wieder der deutsche Verleiher aus den Fingern gesogen, um auf der „Nacht der lebenden Toten“-Welle mitzuschwimmen) ist ein Werk von Gary Sherman, den wir primär als Schöpfer des kultisch verehrten Tot & begraben und des unterschätzten „Poltergeist III“ kennen, und sogar noch – nach einem kurzen Dokumentarfilm über Bo Diddley – sein Debütwerk, produziert von keinem geringeren als dem späteren „Police Academy“-Macher Paul Maslansky.

Shermans Story-Idee und das Script von Ceri Jones schaffen auf den ersten Blick ein recht originelles, frisches Horror-Konzept – wenn man so will, verlegt Sherman das klassische Hinterwäldler-Inzucht-Hirni-Schema (das es 1972 in der Form allerdings noch nicht wirklich gab) in urbanes Territorium (und, wenn man so will, ist damit ideeller und, soweit man mal nur den hiesigen Schlussakt betrachtet, auch formaler Urvater von Christopher Smiths Creep). Das wirft ein paar logische Probleme auf (schlappe drei Generationen Inzucht sollten noch nicht ausreichen, um die Nachkommenschaft in sabbernde, sprachunbegabte Halbmonster zu verwandeln, und natürlich ist die zentrale Krux, dass die Verschütteten offenkundig ziemlich schnell einen Ausgang aus ihrem Gefängnis gefunden haben müssen, um „Beute“ zu reißen und ergo nicht dazu gezwungen waren, freiwillig im Untergrund zu bleiben), aber es ist taugliches Gerüst genug für einen spannenden Gruselfilm, der weniger aufgrund der Story, sondern der interessanten stilistischen Umsetzung wegen im Gedächtnis bleibt (zu der komme ich dann in gewohnter Weise ein-zwei Absätze später).

Das Script kommt ohne Protagonisten im klassischen Sinn aus (hm, in letzter Zeit ein ziemlich häufiges Thema hier) – Inspektor Calhoun ist nominell die „Hauptfigur“, doch er ist ein sehr passiver (dafür aber exzellent geschriebener) Charakter, dessen Funktion weniger darin besteht, selbst in die Handlung einzugreifen, als sie zu kommentieren, on-screen-Rezipient wichtiger Exposition und darüber hinaus zuständig für die humorige Auflockerung zu sein; das könnte eine echt nervige Figur sein, aber Sherman und Jones machen daraus einen echten Charakter, der zwischen verrückten Spleens (er ist ein so stockkonservativer Brite, dass er Tee aus Teebeuteln für eine geradezu widerwärtige neue Erfindung hält, die fraglos den Niedergang des Empires schneller vornaschreiten lassen wird) und seriöser Polizeiarbeit (die ihn nicht davon abhält, sich am Ende eines frustrierenden Tages mit seinem Assistenten die Hucke voll zu saufen) schwanken kann und dabei doch „echt“, nachvollziehbar, in sich konsistent bleibt.
Das eigentliche „Heldentum“ bleibt allerdings Alex vorbehalten, der diese Rolle jedoch konsequent nur im Schlussakt übernimmt – Alex und Patricia scheinen anfänglich nur eingeführt zu werden, um die Geschichte ins Rollen zu bringen, aber Sherman hält sie ganz beiläufig im Spiel (wofür er ganz gute Ausreden hat – zum einen können sie, auch hier quasi in einer Stellvertreterrolle für das Publikum, das Für und Wider einer rationalen gegenüber einer „fantastischen“ Erklärung ausdiskutieren, zum anderen sind sie die einzigen „Zeugen“, die Calhoun zur Verfügung stehen) – er drängt sie nicht in den Vordergrund, d.h. lästiges „love-story“-Gedöns kann außen vor bleiben, aber sie bleiben so präsent, dass es nicht zu einem offenen Bruch kommt, wenn sie im Finale die wichtigen Parts übernehmen…

Auf der Gegenseite gelingt es dem Script erstaunlich gut, aus dem weitgehend stummen „Monster“ (es beherrscht nur einen einzigen Satz: „Mind the doors“, die Durchsage, die jedesmal erklingt, wenn ein Zug abfährt) ein „tragisches“ Monstrum im Frankenstein-Sinne zu machen, das nicht wirklich „böse“ ist, sondern eben nur versucht, sein Überleben in der Nische, die es besetzt, zu sichern. Der „Mann“ empfindet tiefe Trauer über den Tod seiner Gefährtin, er entführt Patricia nicht, um sie zu töten, versucht, sie zu trösten, als sie einen – verständlichen – hysterischen Heulkrampf bekommt und killt fürsorglich Ratten, die das Mädel erschrecken. (SPOILER) Zwar liefert er sich im Finale einen Kampf auf Leben und Tod mit Alex, aber selbst Calhoun, der – wie üblich für einen Bullen in Horrorfilmen – zu spät kommt, um entscheidend einzugreifen, erkennt die tragische Komponente. (SPOILERENDE) Einzig ein wenig störend, weil nicht wirklich für die Geschichte relevant, ist der zusätzliche Aufhänger mit der Beulenpest – daraus entwickelt sich nichts (naja, *fast* nichts), jedenfalls nichts, was dem Film ein zusätzliches Motiv verleihen würde.

Aber wie schon angedeutet – auch wenn die Story von „Death Line“ vergleichsweise neu und originell ist, erst die Umsetzung von Sherman macht den Film wirklich memorabel. Sherman mischt Elemente des klassischen britischen „police procedural“ (ohne dass die polizeilichen Ermittlungen echte Ergebnisse zeigen würden – ein kleiner Gag am Rande ist, dass die der lange zurückliegende Bau-Unfall und die zwölf verschütteten Arbeiter praktisch sofort, in der ersten richtigen Besprechung der Cops, aufgebracht werden, aber aus nachvollziehbaren Gründen – es *ist* nun mal eine ausgesprochen fantastische Idee – nicht weiter verfolgt wird), gothischem Schauerstück (immer dann, wenn in die „Untergrund“-Welt der Kannibalen geschaltet wird) und den damals noch völlig neuen Einflüssen des gerade aus Hollywood (bzw. Hollywoods Hinterhöfen) herüberschwappenden „Terrorfilms“ (im herausragenden Exempel dieses Einflusses, dem Angriff des Kannibalen auf eine Gruppe von drei Arbeitern, gönnt sich Sherman auch zwei für einen britischen Film dieses Baujahrs reichlich rüde Splattereffekte).
Der Kniff daran: Sherman gönnt jedem dieser Haupteinflüsse einen eigenen, unverwechselbaren Stil. Die Polizeifilmelemente inszeniert er nüchtern, sachlich, geschäftsmässig, schon beinahe im bewährten britischen TV-Stil, in den „Terror“-Passagen setzt er durchaus „modern“ auf kurze, stakkatoartige Einstellungen und geht dicht an die Darsteller heran, in den Untergrund-Gothik-Sequenzen setzt er auf lange, ununterbrochene tracking shots (besonders gerade der erste Blick in die Heimstatt der Kannibalen, ein sicher zwei-drei Minuten langer, langsamer tracking shot über einige Opfer der „Monster“, den Schlafraum, in dem die teilweise schon mumifizierten Leichen der verstorbenen Kannibalen liegen usw., ist für einen kleinen B-Film wirklich bemerkenswert gut gelöst und zweifellos eine der unheimlichsten Szenen des britischen 70er-Jahre-Horrorkintopps) und cleveres Ausnutzen der räumlichen Tiefe der U-Bahn-Schächte (und, kleiner Gruß an Keith von Teleport City, mit dem ich neulich per Chat räsonnierte, warum’s keinen vernünftigen U-Bahn-Horrorfilm gibt [wir einigten uns darauf, dass The Midnight Meat Train der Sache bislang noch am nächsten kommt], die letzte halbe Stunde von „Death Line“ ist ungefähr das, was ich mir unter effektivem Underground-Horror vorstelle).
Dadurch, dass Sherman zwischen drei Plotlinien (Calhouns Ermittlungen, das Studentenpaar und der mörderische Kannibale) umschalten kann, hält er das Tempo angemessen hoch und insgesamt gelingt ihm das Kunststück, dass er auch bei „Dead & Buried“ anstrebte, aber von den Produzenten zu striktem Hardcore-Horror verdonnert wurde, eine im Grunde ausgesprochen ernste und tragische Geschichte mit einer guten Dosis Humor in Dialogform zu würzen, und diese kleinen Gags am Rande, die selten eine Szene dominieren (am ehesten in der Szene, in der Calhoun und Rogers sich betrinken), aber stets eine gewisse light-heartedness einbringen. Die einzige gravierende dramaturgische Fehlentscheidung ist der Auftritt von Christopher Lee, der nicht viel mehr ist als ein Cameo und ganz ersichtlich nur eingebaut wurde, um einen zugkräftigen Namen aufs Plakat pinseln zu können…

Die wenigen Splattereffekte sind für das Entstehungsjahr des Streifens technisch gut gelungen, das Kannibalen-Pest-Make-up nicht sonderlich aufregend, aber zweckdienlich. Sollte sich jemand ernstlich mit dem Gedanken an eine Neuveröffentlichung tragen, sollte eine ungeschnittene FSK 16 überhaupt kein Problem darstellen.

Zu erwähnen wäre noch der von Will Malone (hauptamtlich Produzent und als solcher zuständig für die Erfolge von Black Sabbath, Iron Maiden, The Verve und Massive Attack) und Jeremy Rose, die entgegen der Vita Malones hauptsächlich auf „eerie“ elektronische Klänge und atmosphärische Incidentals denn memorable Themes setzen.

Abteilung Schauspieler. Donald Pleasence muss man auf diesen Seiten hoffentlich nicht mehr vorstellen – der Charakterkopf ist hier mal als gleichzeitig erzkonservativer Monarchist und trockener Sprücheklopfer ordentlich gegen sein Image besetzt und hat dabei sichtlich Spaß. Pleasence, der bekanntlich bei Bedarf schon mal durch ’ne Rolle schlafwandeln oder sich auf seine schiere Präsenz verlassen kann, ist blendend aufgelegt und hat mit Norman Rossington („Digby – Der größte Hund der Welt“, „Der längste Tag“) auch den idealen Partner, an dessen „straight man“-Mentalität er sich austoben (ohne jemals zu übertreiben) kann.
David Ladd („Die Wildgänse kommen“, „Das Böse in der Tiefe“) und Sharon Gurney („Liebende Frauen“, „Nicholas Nickleby“) haben nicht ganz so gutes Material zur Verfügung wie Pleasence und zeichnen sich nicht durch überwältigende Chemie aus, aber für Genre-Verhältnisse ist’s ne ordentliche Leistung der beiden.
Hugh Armstrong (der erst zehn Jahre später in „Beastmaster“ wieder auftauchte) tut mit seiner emotionalen Performance viel dafür, dass die tragische Komponente des „Monsters“ funktioniert (und wenn er im Showdown endlos und kaum verständlich sein „mind the doors“ wiederholt, ist das schon sehr creepy).
Christopher Lee, der den schon aus Das Dunkel der Nacht bekannten deluxe-Schnäuzer ausführt, ist als MI5-Spook (mit Schirm und Melone, aber ohne Charme) völlig verschwendet (ich bin auch echt über die Frechheit, ihn wirklich nur in einer Szene einzusetzen, immer noch gelinde schockiert).

Bildqualität: Da wieder mal kein legaler deutscher Publisher Geld verdienen will, ist der geneigte Fan, so er nicht zum Import greift, auf ein Bootleg angeiwiesen. Das von mir auf einer Filmbörse entstandene Exemplar verweigert verständlicherweise jede nähere Herstellerangabe, da es sich um einen recht dreisten 1:1-Rip der US-DVD von MGM handelt, auf die man halt noch ’ne deutsche Tonspur draufgeknallt hat. Immerhin sorgt das dafür, dass die Bildqualität (1.85:1 anamorph) für a) ’n Boot und b) ’n fast vierzig Jahre alten B-Film tadellos ist. Sicher ging’s ein wenig schärfer, aber der Kontrast ist angemessen (vielleicht ist der Print insgesamt einen Tacken zu dunkel, das stört aber nicht weiter) und der Print frei von Verschmutzungen oder Defekten.

Tonqualität: Deutscher und englischer Ton in Dolby 2.0, wobei der deutsche Synchronton, auf den ich mich aufgrund akuter Zuhörfaulheit ausnahmsweise mal konzentriert habe, überraschend gut ist – eine mastertaugliche Audioquelle ist also offenkundig vorhanden.

Extras: Nur der englischsprachige Trailer.

Fazit: Sapperlot – ich hatte nach allem, was ich über den Film in den letzten Jahren gelesen hatte, zwar damit gerechnet, dass „Death Line“ ansehbar sein würde, aber dass der Streifen richtig *gut* ist, na, das überraschte mich dann doch ein wenig. Die Prämisse mag aus oben geschilderten Gründen unlogisch sein, aber der Film fabuliert von dort aus flüssig weiter, erfreut durch technische Professionalität, Shermans originelle dramaturgische Struktur, einige wirklich unheimliche Szenen, den Touch trockenen Humors, seine auf eigentümliche Art eindrucksvolle Spannungserzeugung und natürlich die ausgezeichnete Leistung von Donald Pleasence. Dicke Empfehlung für Freunde gepflegten old-school-Horrors (und ich verdrücke eine kleine Träne des Bedauerns – „Death Line“ ist eine gute Blaupause dafür, was „Dead & Buried“ hätte werden können, wenn die Produzenten nicht auf Teufel komm raus so’n trendigen Splatterfilm hätten haben wollen).

4/5
(c) 2011 Dr. Acula


mm
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