Toxic Lullaby

 
  • Deutscher Titel: Toxic Lullaby
  • Original-Titel: Toxic Lullaby
  •  
  • Regie: Ralf Kemper
  • Land: Deutschland
  • Jahr: 2010
  • Darsteller:

    Samantha Richter (Eloise), Noah Hunter (Bretoria), Eva Maria Balkenhol (Penny), Andreas Pape (Noa), Christian Sprecher (Ziko), Franz Hofmann (Der Mann), Reinhold Sievers (Herr Dieter), Nina Schlegelmilch (Veronika), Nima Conradt (Frank), Swantje Schwarze (Jennifer), Yvo Scharf (Negropold), Ludwig Karner (Pfarrer)


Vorwort

Eigentlich wollen Eloise, Frank und Zigo nur in der Pampa ordentlich einen drauf machen und sich unter’m blauen Himmelszelt bunte Pillen und weißes Pulver einpfeifen… Eloise scheint den Stoff aber gar nicht gut zu vertragen und driftet (was mich bei einem Ralf-Kemper-Film ehrlich gesagt nicht wirklich überrascht) in eine andere Dimension…

Die ist multi kaputti in Folge eines biologisch-bakteriologischen Krieges, der Großteil der Menschheit hat sich in fleischfressende „Schläfer“ verwandelt (so genannt, weil sie tagsüber meist regungslos „wie schlafend“ in der Landschaft rumstehen), die wenigen Gesunden haben sich zu kleinen Kolonien zusammengefunden und versuchen irgendwie zu überleben. Eloise wird von einem solchen Kolonisten-Trupp aufgegriffen und obwohl „der Mann“ stark dafür wäre, den potentiellen Klotz am Bein als Schläferfutter liegenzulassen, hat sein Kollege mit dem hübschen Namen Bretoria an der hübschen Loisl einen Narren gefressen. Überschaubar gute Idee, denn die verständlicherweise zutiefst verwirrte Eloise sorgt schon beim ersten gemeinsamen Nachtlager durch fortgeschrittene Unvorsichtigkeit für eine Schläfer-Attacke und diversen Blut- und Gedärmverlust. Nach einem nicht minder katastrophal verlaufenden Intermezzo bei einem gewissen Herrn Dieter, der an Eloise speziell das gebärfreudige Becken schätzt und gerne persönlich zur Menschenmassenproduktion schreiten würde, erreichen Bretoria und seine neue Freundin mit Müh und Not „Francis“, den derzeitigen Hideout seiner Kolonie in einem ehemaligen U-Bahnhof.
Bretoria hält Eloise für eine Bewohnerin der „grünen Insel“, einer Art mystisch verklärtem Utopia, was Eloise zwar prinzipiell verneint, aufgrund fehlender Erinnerung trotzdem nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. „Der Mann“, der mit seinem weiblichen Sidekick Penny inzwischen ebenfalls in Francis eingetroffen ist, schlägt eine Expedition zu einer Hütte vor, um die Eloises spärliche Resterinnerungen kreiseln und wo sich vielleicht Antworten finden lassen würden. Dumm nur, dass Noa, der Vorsteher von Francis, das für einen ausgesprochen dämlichen Einfall hält und (SPOILER VORAN) in Eloise maximal eine Aufstockung der Vorratskammer sieht. Bevor ihr aber das Fell über die Ohren gezogen werden kann, greift eine größere Schläfer-Zusammenrottung an. Nur Eloise, Penny und Bretoria gelingt die Flucht…


Inhalt

Ich bin gar nicht mal so blöd… während ich mir „Toxic Lullaby“, den neuesten Film aus der spontitotalfilm-Werkstatt, die wir hier zuletzt mit dem unterhaltsamen Fantasy-Epos Die Waldbewohner gewürdigt haben (an dieser Stelle einmal mehr Dank für das regelmäßige Screener-Zuschicken, obwohl ich ebenso regelmäßig elendiglich lange brauche, bis ich sie bespreche…) ansah, feierte ich das ein oder andere deja-vu-Erlebnis – nicht nur, weil Kollege Kemper wieder einmal mit seinem Lieblingsthema „unterschiedliche Realitätsebenen“ spielt, sondern mir diverse Charakternamen, Termini und Gegebenheiten der hier von ihm postulierten postapokalyptischen Welt irgendwie bekannt vorkamen. Des Rätsels Lösung: ohne dass der Film damit hausieren geht, handelt es sich bei „Toxic Lullaby“ um eine Art Sequel/Expansion/zumindest-im-gleichen-Universum-angesiedelte-Geschichte zu Moving, dem ersten bei mir vorstellig gewordenen spontitotal-Film, den ich vor sage und schreibe sechs Jahren besprochen haben dürfte. Zur Vermeidung von Wiederholungen bitte ich einfach bei dortigem Review nachzuschlagen.

Nun gut, das allein macht einen Film noch lange nicht besser, aber Kemper ist mir schon deswegen sympathisch, weil er unter den deutschen Indie-Filmern einer derjenigen ist, der zwar durchaus bekannte Genre-Gefilde beackert (letztendlich ist „Toxic Lullaby“ auch „nur“ ein Zombiefilm, auch wenn das Z-Wort nie fällt), dabei jedoch stets an eine richtige Story denkt – dabei beißt er manchmal mehr ab, als er runterschlucken kann (siehe „Die Waldbewohner“ bzw. die mittelschwere Konfusion, die dessen Schlussakt bei mir auslöste), aber jemand, der nach Kräften versucht, in seiner Geschichte eine stimmige, komplexe Welt aufzubauen, ist mir allemal lieber als der x-te Autorenfilmer, der meint, mit der ollen „irrer-Schlitzer-schlitzt-im-Wald“-Kamelle kommen zu können (quasi folgerichtig, dass „Überfall der Mörderrucksäcke“, Kempers wohl bekanntestes Werk, der außer seiner schrägen Idee nicht wirklich viel zu bieten hat, mir von allen bislang gesichteten Streifen des Maestros am wenigsten gegeben hat).

War die Welt in „Die Waldbewohner“ ein vergleichsweise leichtgewichtig und selbstironische (trotz ihrer komplizierten Zusammenhänge), geht’s in „Toxic Lullaby“ ruppig, knochenhart und todernst zur Sache. Wer „Moving“ kennt, hat in dem speziellen Fall das persönliche Pech, dass ihn einige der apostrophierten Überraschungen (die sich oben z.B. hinter der Spoiler-Warnung verstecken) nicht mehr ganz so flashen, andererseits dürfte es sich dabei um einen eher eingeschränkten Zuschauerkreis handeln (’nen richtigen Vertrieb hatte „Moving“ meiner Erinneruing nach nicht), also ist das Reyclen von Charakteren und Plotpoints durchaus legitim für den erweiterten Blick in die düstere, feindliche Welt, in der unsere Helden um ihr Überleben kämpfen müssen. Wie alle fiktionalen Werke, die in einem eigenständigen Universum spielen, muss „Lullaby“ sich mit dem Problem auseinandersetzen, einerseits die Welt und das gültige Regelwerk zu etablieren und nebenher idealerweise auch noch eine griffige eigentliche Geschichte zu erzählen. Kemper kommt damit recht gut zurecht – klar, es gibt gelegentliche Blöcke des gefürchteten expository dialogue, aber sie fügen sich recht harmonisch in die Story ein, da es dafür auch dramaturgische Deckung gibt, da Protagonistin Eloise stellvertretend für den Zuschauer mit den herrschenden Verhältnissen vertraut gemacht werden muss, und sie werden auch nicht überstrapaziert – „Toxic Lullaby“ deckt seine Karten behutsam auf, verrät nicht alles bei erstbester Gelegenheit und lässt sich somit die Möglichkeit offen, auch im Schlussakt noch Überraschungen auszuspielen (sofern man, wie erwähnt, „Moving“ nicht kennt).
Kemper kann das ein oder andere Klischee nicht vermeiden (z.B. das Mitglied der Gruppe, das vom Zombie gebissen wird und dieses Faktum den Kameraden verheimlicht), gleicht das aber durch recht gute Charakterarbeit, vor allem für die beiden wesentlichen Frauenrollen (neben Eloise wird Penny in der zweiten Hälfte zu einer extrem wichtigen Figur), aus. Die Dialoge sind nicht gerade hohe Lyrik, aber dem typischen Indenpendent-Zombieschlonz durchaus überlegen (wobei’s auch hilft, um da ein wenig vorzugreifen, dass die Darsteller überwiegend einen guten Job erledigen). Und angemerkt sei auch, dass just, als ich befürchtete, „Toxic Lullaby“ würde sich wie „Die Waldbewohner“ zum Ende hin in seinem eigenen Storykonstrukt verheddern, Kemper einen gelungenen, da plausiblen und nicht auf purem Selbstzweck basierenden Twist aus dem Ärmel zaubert, der nicht nur innerhalb der Story funktioniert, sondern auch eine ganz interessante Brechung seines Lieblingsthemas („Paralleldimension“, Ihr erinnert euch) darstellt.

Letztlich ist aber ein (ich bleibe dabei, ich bin in der Hinsicht basisdemokratisch veranlagt und betrachte Infizierte, voodoo-isierte Untote und Wiedergänger aller Art als Zombies, egal, wie sie sich nun nennen) Zombiefilm nicht das Geläuf für intellektuelles Kopfkino – wer mit seiner Geschichte meine grauen Zellen nicht extrem beleidigt, kann in der Hinsicht mit so mancher Plotte durchkommen; interessanter ist da schon fast, wie Kemper sich als Regisseur auf handwerklicher Hinsicht schlägt. Und auch da muss man Komplimente verteilen – „Toxic Lullaby“ sieht richtig gut aus. Sicherlich ist das immer noch als Indie-Produktion erkennbar, aber im direkten Vergleich zu den zwei Jahre älteren „Waldbewohnern“ ist eine deutliche Weiterentwicklung nicht zu übersehen. Kemper sorgt durch kurze Einstellungen, die nicht nach dem puren Schuss-/Gegenschussprinzip arbeiten, für visuelle Abwechslung in den Charakter- und Dialogpassagen; dass man in eine Steadicam investiert hat, schadet dem Look des Streifens mit Sicherheit nicht und vermeidet das bei Indie-Produktionen aus hiesigen Landen immer wieder gern genommene Problem der extrem statischen Einstellungen; die Action- und Kampfszenen wird man nicht mit einer Hongkong-Produktion verwechseln, aber niemand blamiert sich und in den großen Actionszenen zahlt es sich eindeutig aus, dass hier nicht nur ein Rudel Statisten mit der Anweisung „lauft mal ’n bissken zombiemäßig rum“ an den Drehort gekarrt hat, sondern tatsächlich Rehearsals stattgefunden haben (siehe making-of), die jedem Beteiligten verdeutlichten, was er wie zu tun hat. Vorbereitung zahlt sich halt doch aus.
Gut gemeint, letztlich aber unterentwickelt, da der Streifen das Thema „Wechsel der Realitätsebene“ nicht wirklich entschieden verfolgt, ist der Ansatz, die Szenen in der „normalen“ (unseren) Welt in warmen, hellen Farben zu fotografieren und für die zerstörte, apokalyptische Zombie-Welt abweisende kalte, düstere Farbtöne zu bevorzugen. Pacingtechnisch her ist „Toxic Lullaby“ kein durchgängiger Adrenalinstoß – der Streifen hat genügend Action- und Splatterszenen, verteilt sie aber geschickt über die Laufzeit und kann sich so immer wieder die notwendigen Atempausen für Charakterszenen und Exposition nehmen – eineinhalb Stunden ist für eine deutsche Indie-Produktion ’ne Menge Holz, aber Kemper befleißigt sich eines sehr angenehmen, runden Tempos und lässt nie Langeweile aufkommen.

Zudem verfügt er über einige absolute Killer-Locations – sicher beinhaltet „Toxic Lullaby“ auch eine Fuhre des üblichen „durch-den-Wald-laufens“, aber praktisch alle Indoor-Szenen, und auch das sind einige, wurden an wirklich schicken, angemessen heruntergekommenen Drehorten realisiert – Highlight ist sicherlich der U-Bahnhof, der „Francis“ mimt und für den sich Kemper, wenn ich den Nachspann richtig interpretiere, im Straßenbahnmuseum der Kasseler Verkehrsbetriebe eingemietet hat, woraus großer Nutzen gezogen wird. Ich sag’s immer wieder, das sind Dinge, mit denen man sich vom weiten Feld der Wald-und-Wiesen-Schlitzerfilme absetzen kann, und meistens dürfte es nicht mehr als ein paar Anrufe und schlimmstenfalls ein „NEIN! Seid ihr IRRE??“ als Abfuhr kosten. Nicht von schlechten Eltern ist auch die akustische Untermalung, sowohl der instrumentale Score als auch die verwendeten Rocksongs werden gut eingesetzt und unterstützen die Stimmung.

In Sachen Gore und Splatter legt Kemper im Vergleich zu seinen mir bisher bekannten Werken ’ne ordentliche Schippe drauf – das „Schläfer“-make-up ist nicht gerade überwältigend originell oder detailliert, aber ausreichend, dafür haben die Burschen ’nen gesunden Appetit und leben den in aller blutigen Fröhlichkeit aus, das auf mehr als ordentlichem technischen Niveau, das sollte Gorehounds allemal zufriedenstellen; es wird gebissen, Fleisch ausgerissen, Gedärm gemampft (und kein einziger Zombie per Kopfschuss geplättet. Simple Ausrede dafür: in all den Jahren seit der ursächlichen Katastrophe ist schlicht und ergreifend die Munition ausgegangen). Kann man nicht meckern.

Auch nicht, wie schon angedeutet, über die schauspielerischen Leistungen. Samantha Richter löst ihre Aufgabe und ihren character arc von verstörter Amnesia-Patientin zur Kämpferin bemerkenswert gut, Noah Hunter überzeugt gleichfalls als Bretoria und auch Eva Maria Balkenhol (bereits bekannt aus „Die Waldbewohner“) macht aus ihrer Penny mehr als nur, was man anfänglich befürchten durfte, das quintessentielle Goth-Girl.
Auch die meisten Nebenfiguren, obwohl durch die Bank unbeschriebene Blätter (Prashant Prabhakar, der immerhin schon verschiedene TV-Auftritte u.a. in „Stromberg“ vorweisen kann, darf immerhin unter Beweis stellen, dass man auch im deutschen Indie-Film als Nicht-Kaukasier als erster abnippelt, Yvo Rene Scharf in der kleinen Rolle des Negrobold verfügt über einiges an einschlägiger Kurzfilmerfahrung, u.a. in Daniel Schumanns „Das Spiel“), erledigen ihre Arbeit zumindest auf ansprechendem Indie-Niveau.
Echte Prominenz bildet eigentlich nur Genre-Staple Andreas Pape in der verhältnismäßig kleinen und für ihn auch eher ungewöhnlichen Rolle des fiesen Noa (dafür darf er aber auch spektakulär dahinscheiden). Insgesamt eine gute Ensemble-Leistung.

Bildqualität: Ralf Kemper hat für „Toxic Lullaby“ auch einen professionellen Vertrieb an Land gezogen, der Streifen ist als X-Rated-Hartbox Nr. 247 erschienen. Der anamorphe 1.78:1-Widescreen-Transfer ist ohne Tadel und genügt allemal den Ansprüchen, die ich an eine deutsche Independent-Produktion stelle. Scharf, guter Kontrast, klaglose Kompression, keine Defekte oder Störungen.

Tonqualität: Auch der Ton (Dolby Digital 2.0) ist okay – die Dialoge sind gut verständlich, der Soundmix absolut brauchbar.

Extras: Neben einem ausführlicheren Making-of (ca. 20 Minuten) findet sich ein etwa fünfminütige, mit Musik unterlegte behind-the-scenes-Featurette, der Trailer sowie ein Musikvideo (DJ Eurobass legt hier einen Kommerz-Techno-Trancer im Stile ungefähr von „E Nomine“ vor, der von Ralf Kemper persönlich narratiert wird). Dazu gibt’s vor’m Film noch den Trailer auf des Maestros Bethmann kommenden Blockbuster „Terror Creek“.

Fazit: Angesichts meiner nunmehr langjährigen Review-Beziehung zu spontitotalfilm könnte ich jetzt den alten Spruch „ich hab’s immer gewusst, aus dem Burschen wird noch was“ zitieren… Ralf Kemper ist einer der deutschen Indie-Filmer, der gewillt ist, sich weiterzuentwickeln, technisch zuzulegen, darüber hinaus aber trotzdem noch Geschichten zu erzählen (auch wenn „Die Waldbewohner“ sicherlich der storytelling-orientierere Film ist als „Toxic Lullaby“) und sich auch von einem (aus meiner Sicht) Rückschlag wie dem „Überfall der Mörderrucksäcke“ nicht hat beeindrucken lassen. Resultat: mittlerweile ist Kemper einer der wenigen in Deutschland, bei dem ich schon vor Filmsichtung ein durchaus gutes Gefühl habe, jemand, der mit dem abendfüllenden Format kein Problem hat und die Balance zwischen blutigen Effekten und Story/Charakteren halten kann (oder anders ausgedrückt: es sind die Flüggers, Fleischers und Kempers in diesem Lande, die mich die Walzes, Tauberts und Roses ertragen lassen). Da „Toxic Lullaby“ im Gegensatz zu „Die Waldbewohner“ auch noch ein befriedigendes (weil verständliches), melancholisches Ende aufweist, solide geschauspielert wird und auch vom technischen Gesamtpackage her sicher in die Oberklasse des deutschen Indie-Films einzusortieren ist, verbleibt mir eine dicke Empfehlung für Freunde des unabhängigen deutschen Horrorfilms und mit ein bissl Sympathiebonus vier von fünf Punkten zu verteilen. Weiter so!

4/5
(c) 2010 Dr. Acula


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