- Deutscher Titel: Spurlos - Die Entführung der Alice Creed
- Original-Titel: The Disappearance of Alice Creed
- Regie: J Blakeson
- Land: Großbritannien
- Jahr: 2009
- Darsteller:
Gemma Arterton (Alice Creed), Eddie Marsan (Vic), Martin Compston (Danny)
Vorwort
Zwei Männer unternehmen einen größeren Baumarkt-Einkauf, channeln Hornbach („es gibt immer was zu tun“) und bauen ein scheinbar x-beliebiges Appartment in eine ein- und vor allem ausbruchssichere Festung, inklusive schalldichter „Gefängniszelle“, um. Das machen sie nicht, weil man ihnen zu Weihnachten einen Einkaufsgutschein geschenkt hat oder weil ihre S/M-Betätigungen ansonsten das ganze Haus aufwecken würden, nein, es ist eine Entführung geplant. Das Opfer: Alice Creed, Mittzwanziger-Tochter eines reichen Pinsels. Alice wird ohne viel Federlesens eingesackt, ans Bett gefesselt, geknebelt und bis auf die Knochen ausgezogen. Letzteres allerdings nur („buuh“, schreien die Voyeure), um ein paar eindrucksvolle Fotos, die Papa die Kohle leichter vom Bankkonto leiern sollen, zu schießen. Vic und Danny, einstmals Co-Knastologen, haben die Sache generalstabsmäßig durchgeplant – oder vielleicht doch nicht? Während Vic die Modalitäten der Lösegeldforderung regelt, assistiert Danny Alice beim Stuhlgang, was das nicht ganz so wehrlose Opfer allerdings dazu nutzt, dem Entführer die Waffe zu entreißen – und ein blaues Wunder erlebt, denn Danny ist ihr Boyfriend und versichert Alice, die Lage voll im Griff zu haben. Die ganze Entführung habe er orchestriert, um dem jungen Paar einen finanziell sicheren Start in ein neues Leben (ohne den fiesen Papa, der Alice sicherheitshalber schon enterbt hat) zu ermöglichen – Vic ist nicht eingeweiht, um den wird er sich schon noch kümmern, und, naja, Alice konnte er nichts sagen, weil die Sache ja echt aussehen sollte. Wenn Alice freundlicherweise kooperieren würde, stünde einer gemeinsamen, auf monetären Rosen gebetteten Zukunft nichts mehr im Wege. Doch so einfach läuft die Chose dann halt doch nicht…
Inhalt
„Alice Creed“ lief schon auf dem 2010er FFF und war von mir dort eigentlich zur dringlichen Sichtung vorgemerkt – was heißt „vorgemerkt“, ich hatte mir schon die Karte gekauft. Nachdem mir aber diverse Leute, auf deren Urteil ich gewissen Wert legte, dringend ans Herz legten, den parallel programmierten Amer anzuschauen (unter der Maßgabe, dass jenes bildgewaltige Werk nur auf der großen Leinwand zur vollen Entfaltung komme), verfiel das teuer gekaufte Ticket. Weil es das Karma dann aber eben doch gut mit mir meint, trudelte mir der Streifen dann doch schon ein dreiviertel Jahr später per Rezi-BluRay ins Haus. Verlustgeschäft abgewendet – yay me!
Ich weiß, biographische Anekdoten interessieren Euch jetzt sicher weniger, daher schlagen wir langsam den Bogen zum Film und bewegen uns wieder einmal in der zuletzt eigentlich meist zuverlässig Qualitätsware beinhaltenden Schublade „junges britisches Kino“ (als Ausfall war da in den letzten Monaten eigentlich nur The Last Seven zu vermelden und der hatte wenigstens eine coole Idee). Gerade das „urban crime cinema“ von der Insel, das mit niedrigen Budgets grimmig-rauhe Einblicke in die britische Unterwelt in unterschiedlichsten Ausprägungen (von London to Brighton über Dead Man Running bis hin zum Vigilante-Drama Harry Brown) feierte große Erfolge bei Kritikern und Publikum – J Blakeson, der Autor von „The Descent 2“, der mit „Alice Creed“ sein Debüt als Langfilmregisseur feiert, schlägt allerdings in eine andere Kerbe.
Blakeson fährt ein minimalistisches Konzept – drei Darsteller und (für den Großteil der Laufzeit) das sparsam dekorierte Interieur einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, die schon bessere Zeiten gesehen hat (nur im Schlussakt wird das Konzept aufgebrochen und ein Schauplatzwechsel durchgezogen), womit schon klar wäre – Schauwerte sind die Sache des Writers/Directors nicht, er setzt auf seine Charaktere und die Winkelzüge des Dramas, in das er selbige wirft. Obschon „Alice Creed“ ein völlig anderer Film ist als der zuletzt besprochene Buried – Lebend begraben, drängen sich einige Parallelen auf – klar, bei „Buried“ ist die Sache *noch* minimalistischer (wie ich schon sagte – nur kein Film wäre noch minimalistischer als das set-up von „Buried“), aber auch hier haben wir eine enorme Beschränkung in Sachen Charaktere und Location, auch hier werden wir praktisch direkt in die „Action“ (in Ermangelung eines besser geeigneten Wortes) geworfen, auch hier ergibt sich alles, was wir über die Charaktere erfahren, aus den Handlungen und Gesprächen der Figuren, ohne vorhergehende Einführung oder Exposition (was den Kram natürlich auch recht fies zu besprechen macht, denn praktisch alles, was ein handelsüblicher Film uns an Grundvoraussetzungen für das sich anschließende Spiel fein säuberlich vorgekaut servieren würde, qualifiziert sich bei einer Struktur, wie „Alice Creed“ sie fährt, eigentlich streng genommen als Spoiler. Ich versuche mich zurückzuhalten).
Nachdem der erste Eindruck der eines geradlinigen Entführungs-Chillers (den Akt der Entführung bekommen wir übrigens auch nur aus quasi eineinhalbter Hand geboten – Kamera im Van, Hecktür wird aufgerissen, Alice reingeworfen und fixiert, Tür zu, Entführte zumindest für den Moment erledigt) etabliert ist (Vic und Danny wirken wie geschäftsmäßige Komplizen, die die Sache haarklein vorbereitet haben und es bestenfalls den Anschein hat, als wäre Danny von der realen Situation ein wenig ins Bockshorn gejagt), beginnt Blakeson nach gut 25-30 Minuten mit dem eigentlichen Ränkespiel – Danny und Alice sind ein Paar und die Entführung aus Dannys Sicht eine ausgezeichnete Gelegenheit, dem ungeliebten Paps das liebe Geld aus dem Kreuz zu leiern, sofern Alice brav mitspielt. Spätestens aber, als uns als Zuschauer klar wird, dass Danny und Vic nicht nur zwei Knackis sind, die sich zur temporären Zweckgemeinschaft zusammengeschlossen haben, darf der Zuschauer – zu Recht – erwarten, dass sich die Plotte doch deutlich komplizierter gestalten wird. Blakeson schmeißt nicht mit Twists und Turns des Selbstzwecks wegens um sich, aber die drei-vier großen Storywendungen entwickelt er schlüssig aus der Figurenkonstellation und lässt geschickt bis zum Finale diverse Möglichkeiten offen, wer und im Zweifel mit wem am Ende den großen Zahltag feiern darf.
Blakesons großes storyschreiberisches Geschick ist, dass seine drei Figuren allesamt extrem ambivalent sind – es gibt keinen klaren, apostrophierten Sympathieträger, keinen reinrassigen Schurken (wobei Blakeson offensichtlich bei allen Boshaftigkeiten, die das Trio sich gegenseitig reinwürgt, allen Dreien mit Sympathie gegenübersteht) – sie mögen sich gegenseitig nach allen Regeln der Kunst in die Pfanne hauen, bedrohen, mißtrauen und demütigen, aber keiner von ihnen erfüllt eine klar zugewiesene Rolle nach schwarz-weiß-Schema, wenn man so will, kann man sich seinen „Favoriten“ selbst aussuchen. Wie dem auch sei – es macht Spaß, den verschiedenen Drehungen und Wendungen zu folgen und erzeugt auch ein gerüttelt Maß ein Spannung, ein-zwei Unglaubwürdigkeiten (die essentiell mit den Nehmerfähigkeiten Alices zu tun haben) mal einfach als künstlerische Freiheit hingenommen.
Filmisch erweist sich Blakeson als Pragmatiker – in der sicheren Erkenntnis, dass es Story und Schauspieler schon richten werden, verzichtet er auf Mätzchen und Gimmicks, ordnet die Bilder klar der Geschichte unter (dass „Alice Creed“ finanziell sicherlich nicht auf Rosen gebettet wurde – der lieben Steuervergünstigungen wegen wurde der komplette Film auf der Isle of Man, die man nun eher der Motorradrennen wegen kennt denn einem eventuellen Ruf als Ersatz-Hollywood – spielt da sicherlich auch rein). Der Streifen ist optisch zweckmäßig, geradlinig und – bis auf die coole, dialogfreie Eröffnungsmontage – richtiggehend im positiven Sinne „altmodisch“, unhip – man merkt’s, Blakeson kommt ursächlich aus der Autorenecke und ist stärker am Storytelling interessiert denn an einem potentiellen Ruf als tricksicherer Regieinnovator.
Marc Canham, sonst zumeist im Videospielbereich tätig, steuert einen sehr hübschen Score mit einem hervorragenden main theme bei. Die FSK-16-Freigabe rechtfertigt sich durch einige Ruppigkeiten gen Ende, den Körpereinsatz von Miss Arterton und einen Schniedel.
Gute Schauspieler wachsen, den Eindruck kann man zumindest gewinnen, im Vereinten Königreich buchstäblich auf den Bäumen, wie sonst könnte jeder für 10000 Pfund und ein par gedrückte Daumen hergestellter Low-Budget-Klopper mit darstellerischen Pfunden wuchern? Da macht auch das kleine Ensemble hier keine Ausnahme. Newcomer Martin Compston (zu sehen auch in „Doomsday“, „Red Road“ und in den nächsten ein-zwei Jahren in satten zwölf Filmen mit von der Partie) macht sich als Danny ausgezeichnet, vor allen Dingen im Zusammenspiel mit Routinier Eddie Marsan („V für Vendetta“, „Miami Vice“, „Mission Impossible III“, „I Want Candy“ und Lestrade in den aktuellen BBC-Sherlock-Holmes-Adaptionen), die eine erstaunliche Chemie aufweisen. Gemma Arterton fällt ein klein wenig ab, speziell, was ihre drehbuchgemäße Beziehung zu Compston angeht, aber für jemanden, den ich bislang ausschließlich in der Kategorie „schmuckes Beiwerk“ („Ein Quantum Trost“, „Clash of the Titans“, „Prince of Persia“) abgelegt hatte, nötigt nicht nur der Wille, in einem kleinen, billigen Britenthriller mitzuwirken, sondern auch der Mut zu einer enorm physischen Darstellung Respekt ab – Arterton ist über den Großteil des Films gefesselt, auch mal ’ne Weile splitterfasernackt, hat oft einen Knebel im Mund und muss über Körpersprache, unverständliche Stöhn- und Grunzlaute (Knebel, newa, da hat man’s nicht mehr so mit der deutlichen Aussprache) und Ausdruck der Augen spielen – das hätte ich ihr in der Qualität nicht zugetraut (und, naja, sie mit so ohne Klamotten sehen zu dürfen, ist natürlich auch ganz fein).
Bildqualität: „Alice Creed“ erscheint bei Ascot Elite in deren UK-Subschiene und hinterlässt auf BluRay einen angemessen feinen Eindruck. Im Gegensatz zu den meisten anderen neuen Low-Budget-Briten-Thrillern wird hier nicht auf rauhen, ungeschliffen-grindigen Look gesetzt, d.h. die Sache macht auch auf dem großen Flatscreen einen sehr angenehmen, glatten Eindruck (Widescreen 2.40:1).
Tonqualität: Deutscher und englsicher Ton jeweils in DTS-HD 5.1. Der englische Sprachtrack ist wie üblich aufgrund der größeren Authenzität (und der wie so oft bei Britenfilmen hinreißenden Akzentarbeit) zu bevorzugen, die deutschen Untertitel sind zwar ab und zu nicht ganz bei der Musik, aber zweckmäßig. Die Tonmischung ist ausgezeichnet, wobei „Alice Creed“ nicht dazu angetan ist, die Grenzen der heimischen Audioanlage auszuloten.
Extras: Da gibt’s doch einiges – neben Trailer und Trailershow finden sich ein Audiokommentar, Interviews mit allen wesentlichen Beteiligten, das offizielle Making-of, unkommentierte Drehaufnahmen und ein Vergleich von Storyboards mit fertigen Filmszenen.
Fazit: Auch wenn ich letztlich nicht traurig bin, „Alice Creed“ wegen „Amer“ beim FFF sausen gelassen zu haben, konstatiere ich – als „Film“ ist „Alice“ besser (klar, kann man auch prima vergleichen, die zwei…)… Aber mal ernstlich – „Alice Creed“ ist ein erfreulich unprätentiöser, charakter- und storyorientierter Thriller, der nicht nach einem „twist-per-minute“-Schema operiert, seine Wendungen dafür aber nachvollziehbar und schlüssig erzählt. Blakeson ordnet seine Inszenierung klar der Geschichte unter und hat ausgezeichnete Darsteller zur Verfügung – im Kontext des jungen britischen Thrillerkinos nimmt der Streifen aufgrund seiner schieren Weigerung, auch noch sozialkritische Elemente einzubauen (ansonsten ja ein Trademark des neuen englischen Films), eine kleine Sonderstellung ein; einerseits durchaus „Mainstream“-tauglich, andererseits aber auch inhaltlich sperrig genug, um nicht mit gelackter Hollywoodware verwechselt werden zu können. Kurzum – ein spannender, gut gespielter Thriller mit der ein oder anderen Überraschung. Darf gerne wiederkommen…
4/5
(c) 2010 Dr. Acula