Siegburg

 
  • Deutscher Titel: Siegburg
  • Original-Titel: Stoic
  •  
  • Regie: Uwe Boll
  • Land: Kanada
  • Jahr: 2009
  • Darsteller:

    Edward Furlong (Harry), Shaun Sipos (Mitch), Sam Levinson (Peter), Steffen Mennekes (Jack)


Vorwort

Eines schönen Morgens ist einer von vier Insassen einer völlig gewöhnlichen Gefängniszelle hinüber, dekorativ an einem zusammengeknoteten Bettlaken aufgehängt. Seine werten Zellengenossen sind angemessen hysterisch, doch im Verlauf der Vernehmungen stellt sich schnell heraus, dass der vermeintliche Suizid eine Vorgeschichte hat…
Mitch, in der Hackordnung seiner Zellenbesatzung ganz unten, hat das persönliche Pech, ’ne Poker-Glückssträhne zu haben. Nachdem er Harry, Jack und Peter die Kippenvorräte bis in die nächste Woche abgezockt hat, besteht man loserseitig auf ein Rückspiel, doch Mitch weist dezent darauf hin, dass es dem Verlierertrio an einem Einsatz fehle. Nach einigen Verhandlungen einigt man sich darauf, dass der Verlierer der nächsten Runde, die Mitch auf Pump-Basis offeriert, eine Tube Zahnpasta vertilgen soll. Wie’s der Deibel so will, verlassen die Pokergötter an dieser Stelle Mitch. Der steht nun auf dem Standpunkt, dass ihn die Zahnpasta-Wette, weil vor der Partie eben NICHT pleite, nicht tangiert, was seine Mitbewohner – das Unterhaltungsprogramm ist eben nicht sonderlich abwechslungsreich – durchaus anders sehen und nachhelfen. So weit, so unappetitlich, aber jetzt auch nicht so gravierend, dass es nicht vermutlich auf wöchentlicher Basis in den Schullandheimen dieser Welt passiert. Doch Peter kann’s nicht lassen – jetzt, wo Mitch eh schon gedemütigt ist, kann man das ja noch mit ein paar kostenlosen Zugaben ausbauen.
Salzwassercocktail, Fremdurinbehandlung und das Aufschlabbern von eigenmündig ausgekotztem Vorverdauten als erzieherische und hygienische Maßnahme sind das weitere Programm. Der brutale Jack und der zynische Harry sorgen dafür, dass Mitch die ihm gestellten Prüfungen auch brav absolviert – als Mitch allerdings danach versucht, die Wachen zu alarmieren, eskaliert die Situation in der Zelle vollends…


Inhalt

2006 machte der Fall „Siegburg“ in Deutschland Schlagzeilen – in einem Jugendgefängnis hatten drei Insassen einen Zellengenossen über einen ganzen Tag über mißhandelt, gedemütigt, gefoltert und schließlich zum Selbstmord gezwungen. In allen Zeitungen, allen Talkshows meldeten sich die üblichen Verdächtigen, forderten Konsequenzen, ohne zu wissen, worum’s überhaupt geht – letztendlich wurden die Täter zu langjährigen Zusatz-Haftstrafen verurteilt, aber so wirklich öffentlichkeitswirksam geklärt, wieso einerseits in einem Jugendknast über 18 Stunden hinweg kein Aufsichtspersonal mal in der Zelle nach dem Rechten sah und was andererseits drei Jugendliche dazu bewog, ohne wirklichen Grund ihren Zellengenossen derart brutal zu mißhandeln, wurde die Chose nicht. Dafür haben wir dann ja auch Uwe Boll (der Fall wurde allerdings auch von Jungregisseur Phillip Koch aufgegriffen und als „Picco“ verfilmt), der nach dem wiederholten kommerziellen Schiffbruch seiner Videospiel-Adaptionen seine Independent-Wurzeln wiederentdeckt hat und kleinere, intimere Filme dreht (wenn er nicht gerade durch-dreht und einen Dreifachstreich wie „BloodRayne III“, „Auschwitz“ und „Blubarella“ auf die Menschheit los lässt, unter der Corman-mäßigen Maßgabe, wenn man schon mal KZ-Kulissen aufgebaut hat, wär’s ja Verschwendung, nicht mindestens drei Filme drin zu drehen).

Ähnlich wie sein Vietnam-Drama Tunnel Rats entstand auch „Stoic“ (dessen deutschen Titeln ich zwar aus Marketinggründen verstehe, aber auch für unglücklich halte – die Filmadaption tut in keiner Sekunde so, als würde sie *nicht* in den USA spielen, so dass der deutsche Titel aus „filmischer“ Sicht keinen Sinn ergibt) ohne festes Drehbuch, vielmehr wurde direkt vor’m Dreh in Gesprächen zwischen dem Regisseur und den vier Darstellern diskutiert, welche Situation gedreht wie gedreht werden soll, wobei den Schauspielern höchstes Mitspracherecht eingeräumt wurde; die Dialoge durften die Aktiven sogar komplett improvisieren, was – laut Begleitmaterial – gerade dem erfahrensten Akteur, Edward Furlong, eine Heidenangst einjagte, da er bis dato in seiner Karriere keinerlei Improv-Arbeit zu verbuchen hatte.

Bolls minimalistisches Kammerspiel (dass ausschließlich innerhalb der kargen Gefängniszelle spielt, nur unterbrochen durch die „Verhörsequenzen“, in denen aber auch ausschließlich der jeweils gerade befragte Darsteller an einem neutralen Tisch vor schwarzem Background zu sehen ist) interessiert sich nicht sonderlich für die Ursachen des unbegreiflichen Gewaltausbruchs in der Zelle (was soweit geht, dass er uns z.B. die Verbrechen, wegen derer die vier Knackis einsitzen, erst am Ende des Films in einem kurzen Epilog verrät, wir als Zuschauer also nicht „wissen“, wer von den Vieren möglicherweise speziell gewaltbereit ist), sondern lässt seine (selbstverständlich gelegentlich sehr aufdringliche Hand-)Kamera beobachten, ohne zu interpretieren; das ist freilich ein gangbarer Weg, der allerdings durch die Verhörsequenzen aufgebrochen wird – hier interpretiert Boll dann doch ein wenig, wobei es ihm auch hier nicht um das „warum“, sondern um die Reaktion der Täter auf die Tat geht (es wird ein wenig SPOILERiffic).
Vom erzählerischen Blickpunkt her ist diese über den Film verteilte Nachbetrachtung interessanter – Boll lässt sich seine Aktiven in direkten Widerspruch zu den gezeigten Bildern setzen (es gibt übrigens auch einen echten „cheat“ – in der Eröffnungssequenz sehen wir, wie Mitch sich alleine erhängt, also die Story, so wie die Täter es sich als offizielle Story ausgedacht haben, was, wie sich herausstellt, so nicht passiert ist) und konfrontiert sie quasi (ohne, dass der „Verhörende“ im Bild oder auch nur auf der Tonspur in Erscheinung tritt) mit den wahren Geschehnissen – Jack, der tumbe (glatzköpfige) Schläger spielt die „ich konnte es nicht verhindern“-Karte, Harry, der Zyniker, leugnet erst den realen Tathergang und stellt sich dann auf einen „so what“-Standpunkt, Peter, der psychisch labilste unter den drei Tätern, zeigt als einziger ehrliche Reue und Betroffenheit, ist aber der, wie die Bilder zeigen, der immer wieder als Anstifter fungiert (in der sicheren Gewissheit, als nächstschwächeres Glied in der Nahrungskette, wenn er keine aktive Rolle bei den Mißhandlungen übernimmt, das Schicksal Mitchs zu teilen), die Situation weiter anheizt, wenn sie sich zu beruhigen scheint, und auch die Idee mit dem fingierten Selbstmord aufbringt. Der Zuschauer darf sich anhand dieser Reaktionen eine eigene Meinung bilden, wer ggf. die Hauptverantwortung trägt – psychologisch erscheinen diese Nachbetrachtungen auf den ersten Blick recht stimmig zu sein (ohne mich hier zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen).

Filmisch ist „Stoic“, wie erwähnt, minimalistische Kost – ein schmal dekoriertes Set (kein Wunder, ’ne Knastzelle ist nunmal kein Palast), überwiegend sehr intime bis aufdringliche Handkamera (auch das ist kaum anders zu lösen). „Stoic“ ist kein Film für Ästheten, will und kann das auch nicht sein, er will unangenehm, sperrig, mit Widerhaken versetzt sein, durch die extreme (und weitgehend realistische – dass Tritte und Schläge mit Bud-Spencer-mäßigen Soundeffekten verziert wurden, tut dem Anspruch, hier echte, ungeschönte Gewalt zu zeigen, nicht gut) Gewaltdarstellung schocken; in gewisser Weise ist „Stoic“, auch wenn wohlmeinend intendiert, „Exploitation“ im Wortsinne, der „USP“ des Films sind nun mal die Mißhandlungen bis hin zur analen Vergewaltigung mit dem Besenstiel und gerade die „Teilnahmslosigkeit“, mit der die Kamera diese Vorgänge quasi dokumentarisch-„wertfrei“ beobachtet, bringt eine gewisse „gefährliche“ Ambivalenz mit sich (siehe „American History X“ – den ich qualitativ jetzt sicherlich nicht mit „Stoic“ vergleichen will, auch wenn Boll diese Verbindung, gerade auch durch Edward Furlong, nicht unangenehm wäre -, der ja auch gerne von den Falschen vereinnahmt wird). Ja, der Film setzt durch die (auch dramaturgisch durchaus sinnvollen, da „Stoic“ ansonsten zu einer reinen Gewaltorgie würde) Verhörsequenzen einen gewissen moralischen Kontext, aber dem Zuschauer ist, da der Streifen auch in diesen Szenen die Aussagen der Täter unkommentiert stehen lässt, die Wahl offen, sich z.B. auch auf die Seite Harrys und seinem achselzuckenden „ist halt passiert, was soll’s“ zu schlagen.

Sabotiert wird das Unterfangen natürlich auch durch die Zensur – die frei erhältliche FSK-18-Fassung ist heftigst beschnippelt (was ich Hohlbirne natürlich nicht wusste), da fehlen satte neun Minuten der härtesten Gewalt – praktisch alle Mißhandlungen sind in der Uncut-Fassung wesentlich drastischer (insbesondere auch die Vergewaltigung), eine Szene (in der eine Toilette und die dort gewohnheitsmäßig verrichtete Tätigkeit eine gewisse Rolle spielen) fehlt gar gänzlich, und da später auf sie in den Dialogen noch eingegangen wird, sorgt das für ein wenig Verwirrung. Eine ebenfalls erhältliche JK-Fassung ist immer noch zum zwei Minuten beschnitten, die komplette Fassung gibt’s wie üblich nur bei den österreichischen Freunden. Die Schnitte sind handwerklich akzeptabel ausgeführt und natürlich darf man sich die Frage stellen, ob die derart ausufernde Darstellung von Gewaltakten „nötig“ ist, andererseits ist gerade die Intensität, Brutalität und Sinnlosigkeit dieser Akte der Punkt, den der Film zu machen gedenkt (wie gesagt, ohne sich dabei auf echte Aussage festnageln zu lassen. Peter darf mal zwar darüber schwadronieren, dass das „System“ im Arsch sei, aber look who’s talking).

Die schauspielerischen Leistungen sind durchaus beachtlich – dass die vier Herren keine shakespeare-reifen Dialoge improvisieren, leuchtet ein und ist auch so angebracht, allerdings können die arg repetiven und fuck-durchsetzten Tiraden schon mal nerven, wenn Charakter X den gleichen Satz fünfmal hintereinander herausbrüllt (hat schon seine Gründe, warum man eben normalerweise nicht improvisiert, sondern Dialoge *schreibt*). Von der Intensität her sind drei Viertel des Ensembles aber durchaus memorabel – Furlong, der einzige etablierte „Name“ („Star“ will ich jetzt nicht direkt sagen) im Cast, ist bemerkenswert als der scheinbar so zurückhaltende, dann aber mit unverhohlenem Sadismus ausbrechende Zyniker, Shaun Sipos („Melrose Place“-Neuauflage, „Rampage“, „Final Destination 2“) spielt den menschlichen punching ball durchaus mit Nuancen, Sam Levinson („Inside Hollywood“, abgesehen davon Sohn von Barry Levinson) liefert aber die überzeugendste Performance ab (wäre es kein Boll-Film, würde man womöglich von einer „star making performance“ reden); sowohl in den Verhörsequenzen als auch in der eigentlichen Handlung, als deren Katalysator er fungiert (insofern hat er auch die dankbarste Rolle zur Verfügung) bringt er die widerstreitenden Emotionen (einerseits das Mitgefühl für Mitch, andererseits aber die blanke Angst vor Harry und Jack) schön auf den Punkt.
Schwachpunkt im Cast ist Steffen Mennekes („Rampage“, „Bloodrayne III: The Third Reich“, „Blubberella“), dem man anmerkt, dass er nicht in seiner Muttersprache agiert (und Improvisieren in einer Fremdsprache ist dann schon eher hohe Schule) – wäre vielleicht ganz clever gewesen, seinem Charakter einen entsprechenden Background zu geben, dann fiele es nicht so stark auf, dass er manchmal mehr mit der Sprache als mit der Schauspielerei beschäftigt ist.

Bildqualität: New KSM bringt den Film in anamorphem 1.78:1-Widescreen. Der Transfer ist praktikabel, aber kein Augenschmaus – es gibt aber ja auch nicht wirklich was zu „kucken“ im Sinne von visuellen Kniffen und Effekten. Geht also in Ordnung.

Tonqualität: Deutscher und englischer Ton jeweils in Dolby 5.1. Ich empfehle den englischsprachigen Originalton. Der Tonmix ist gut, nicht herausragend (aber siehe die Anmerkung zum Bild). Die Effektspur übertreibt mit den Schlag- und Trittgeräuschen.

Extras: Deleted Scenes, unkommentierte Behind-the-Scenes-Featurette, Trailer, Biografien und ein recht informatives Making-of, in dem auch alle Darsteller (und Boll natürlich) zu Wort kommen.

Fazit: Ich bin mir noch immer recht unschlüssig, wie ich mit „Stoic“ umgehen soll (auch aufgrund der Tatsache, dass mir nur die heftig gekürzte und damit in der „Aussage“ entschärfte deutsche 18er-Fassung vorliegt; bei einem Film, dessen Anliegen es explizit ist, reale, dokumentierte Gewalt wiederzugeben, fallen derartige Kürzungen schwerer ins Gewicht als beim 08/15-Feld-Wald-und-Wiesen-Goreheuler). Bolls Intention ist mir klar, ob die Umsetzung letztlich erfolgreich war, da bin ich mir nicht sicher – sicher bin ich mir aber, dass Boll, hmhm, „künstlerisch“ mit seinen kleinen Indie-Dramen auf einem ganz patenten Weg wäre, sich von dem Nimbus des „scheißige Videospielfilme-Drehers“ zu lösen (ehe er mir wieder in den Rücken fällt und „Bloodrayne III“ und „Blubberella“ parallel zu „Auschwitz“ in den gleichen Kulissen runterrotzt)- zumal man „Stoic“ durchaus als eine Art stilistischen und ideologischen Nachfolger zu einem Frühwerk wie Amoklauf sehen kann. Das Stigma wird er wohl aber nie wieder los werden (und, wie gesagt, er tut auch nicht konsequent etwas dafür bzw. dagegen); ohne Bolls Namen würde man „Stoic“ gegenüber in der seriösen Filmkritik wohl aufgeschlossener sein.

Verbleiben wir mal so – Kudos an Boll, sich an einem ambitionierteren Stoff zu versuchen, der nicht nur das mediale Echo des realen Falls auszubeuten versucht (dann hätte er den Film sicher deutlich stärker „dramatisiert“), Glückwunsch an Levinson zu seiner schauspielerischen Leistung, und insgesamt der etwas ratlose Schluss des Rezensenten, dass er der ganzen Angelegenheit – auch eingedenk der Tatsache, keine vollständige Version gesehen zu haben – (noch) zwiespältig gegenübersteht. Daher mal eine neutrale Bewertung (und das ist bei mir eben 3 von 5 Punkten).

3/5
(c) 2011 Dr. Acula


mm
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