Senseless

 
  • Deutscher Titel: Senseless
  • Original-Titel: Senseless
  •  
  • Regie: Simon Hynd
  • Land: Großbritannien
  • Jahr: 2008
  • Darsteller:

    Jason Behr (Elliott Gast), Emma Catherwood (Nim), Joe Ferrara (Blackbeard)


Vorwort

Während einer Geschäftsreise in Frankreich wird der US-Yuppie Elliott Gast gekidnappt. Gast findet sich in einer praktisch leeren Wohnung wieder und muss verblüfft feststellen, dass er in die Hände einer Gruppe radikaler Anti-US-Imperialisten gefallen ist, die an ihm ein allgemeines Exempel statuieren wollen. Schön nacheinander wollen die Entführer Elliott seiner Sinne berauben – mit dem Geschmackssinn fangen sie an. Perfiderweise wird Elliotts Martyrium ständig live ins Internet gestreamt, die Zuschauer dürfen sogar mitbestimmen, ob und wie er gefoltert wird und, ein nicht zu unterschätzender Punkt, Geldspenden pro und contra Elliott abgeben. Während Elliott zwischen den Foltern ein Vertrauensverhältnis mit der einzigen Frau unter den Radikalen beginnt und verzweifelt darauf hofft, dass sie ihm in irgendeiner Form helfen kann, muss er sich eingestehen, dass er mitnichten so „unschuldig“, wie er es seinen Entführern einzureden versucht, sondern vielmehr tatsächlich ein kleines Rädchen im gigantischen Apparat der amerikanischen Einflußnahme auf die Welt ist. Nur zu dumm, dass es, als er endlich das geforderte „Geständnis“ vor laufender Webcam abgeht, für den Großteil seiner Peiniger längst nicht mehr um schnöde politische Motive geht…


Inhalt

Als mir das Rezi-Exemplar von „Senseless“ aus dem Umschlag entgegenpurzelte und ich das Coverartwork, die Inhaltszusammenfassung und die Altersfreigabe in gewissen Kontext setzte, befürchtete ich sicherheitshalber das Schlimmste. Da Eli Roth, der oberste Innovator des „Torture Porn“-Subgenres, seine „Hostel“-Machwerke ja allen Ernstes für schwer politisch relevante Nachdenkfilme hält (anstatt einfach freimütig zuzugeben, dass es um nicht mehr und nicht weniger geht als das detaillierte Abschlachten von Menschen für Gore-Voyeure, was mir die Streifen und ihren Macher, den ich einstmals, von Cabin Fever irregeführt, für einen Hoffnungsträger des neuen Horrorkinos hielt, nicht sympathischer machen würde, aber zumindest ehrlich wäre), schien es ja nur eine Frage der Zeit, bis ein Nachahmungstäter einen vermeintlich aktuellen *tatsächlichen* politischen Background suchen würde, um den als Ausrede für ein paar sudelige Kills herzunehmen; ist ja auch nicht so, als gäben die Schlagzeilen das nicht her (hoffentlich bringe nicht *ICH* jetzt jemanden auf Ideen). Zum Glück macht es sich der schottische Jungfilmemacher Simon Hynd nicht gar so einfach, sondern adaptierte lieber einen kritikerseits offensichtlich recht wohlgelittenen Thriller von Stona Finch, augenscheinlich (d.h. soweit meine dreiminütige Recherche das ergeben hat) größtenteils dicht an der Vorlage.

Roman und Drehbuch operieren auf zwei Ebenen – zum einen gibt es die oberflächliche, plakative Ebene der politischen Motivation, in der die Frage postuliert wird, inwieweit – in diesem Falle – Elliott als Amerikaner verantwortlich ist für von seiner Regierung angestiftetes Unheil. Das ist ja durchaus eine argumentative Denke, die in einschlägigen Terroristenkreisen gerne angestrengt wird, das einzelne Individuum als Repräsentant seines Landes zu sehen, der persönlich überhaupt keinen Bezug zu den jeweiligen politischen Zielen haben muss, sondern einfach den richtigen (bzw. falschen) Pass in der Brieftasche stecken hat. Diese Argumentation ist für den Film (bzw. den Roman) allerdings lediglich der Aufhänger – hierzu passt, dass die Ideologie der Entführergruppe bewusst vage gehalten wird: ein paar anti-US-imperialistische Allgemeinplätze, mit bösem Willen könnte man „Schwarzbart“, den Haupt-Entführer (der einen Großteil des Films hinter einer Jack-Sparrow-Maske verbringt) in die „böser Araber“-Schublade packen, aber im Endeffekt ist der politische Hintergrund vordergründig austauschbar. Die zweite Ebene der Story gewinnt schnell die Oberhand und richtet ihren anklagenden Zeigefinger weniger auf das große weltpolitische Ganze als das Verhalten eines jeden Einzelnen, im konkreten Fall die (absolut anonym bleibende) Masse der Internet-Voyeure, die sich in Elliots Martyrium einklinken und sich rege am „Script“ seiner Gefangenschaft beteiligen (was zu schwarzhumorigen Einlagen wie der führt, in der „Schwarzbart“ Elliot anfeuert, doch etwas engagierter „mitzuspielen“, weil man sich gegen die Konkurrenz eines Erdbeben in Chinas, einer Virusepidemie in Indien und einer britischen Mutter, die ihr Baby in der Mikrowelle geröstet hat, durchsetzen müsse, und je mehr Zuschauer Elliot habe, um so wertvoller wäre im Umkehrschluss sein Leben). Und an dieser Stelle schlägt das Script geschickt dann doch wieder den Bogen zur Politik – es ist schlussendlich nach Ansicht des Scripts nichts anderes, wenn „wir“ im Internet ein Foltervideo ansehen und danach, wenn der „Spaß“ vorbei ist, achselzuckend zu unserem normalen Leben zurückkehren, wie wenn „wir“ die *wirklichen* Ungerechtigkeiten in der Welt tatenlos in den Nachrichten, in der Zeitung Revue passieren lassen, ohne zu hinterfragen, ob nicht jeder einzelne einen Beitrag zur Besserung beitragen kann oder – wie es Elliott sich gen Filmmitte eingestehen muss, als er realisiert, dass seine vermeintlich unwichtige, bedeutungslose und im Großen und Ganzen keinen Unterschied machende Tätigkeit (SPOILER: sein Job ist es, armen Ländern kurzfristige Darlehen aufzuschwatzen, die diese dann nicht zurückzahlen können und dadurch vom Kreditgeber erpreßbar sind, politisch und/oder militärisch in seinem Sinne zu agieren. SPOILERENDE) – man vielleicht, wenn auch nur als kleines Mosaiksteinchen, zum Unrecht beiträgt. Vielleicht eine etwas naive, aber nicht unsympathische Weltsicht und insofern als Plädoyer für politische und Zivil-Courage zu werten. Durch unser Verhalten, schreit der Film, und sei es nur passive Teilnahmslosigkeit, nehmen wir sowieso Einfluss auf das Geschehen, also lasst uns diesen Einfluss lieber positiv kanalisieren (übrigens ist interessant, dass der Roman vor dem großen Reality-TV-Hype und der neuen Qualität des internationalen Terrorismus entstand).

Das ganze Treiben funktioniert natürlich, weil wir den Film ausschließlich aus Elliots Perspektive erleben, nur, wenn im Mittelpunkt ein starker und interessanter „Gefangenen“-Charakter steht. Elliot ist – erfreulicherweise – keine eindimensionale Figur, wie schon erwähnt, kein klassischer „Unschuldiger“, sondern ein Yuppie, der sich über die Konsequenzen seiner Handlungen selten bis nie Gedanken gemacht hat, dessen Ehe, wie wir in Flashback-Sequenzen erfahren, in einem Stadium der bloßen ritualisierten Sprachlosigkeit angekommen ist, der Klavier spielt und der die schönen Seiten seines Jobs (also die feierlichen Dinners mit Spezialitäten wie lebend gefüllten Singvögeln etc.) zu schätzen weiß, ein „Genußmensch“, wie sich auch „Schwarzbart“ ausdrückt, weswegen seine Entführer ihn eben all seiner Sinne berauben wollen, um ihn da zu treffen, wo’s psychologisch am Schmerzhaftesten ist. Durch andere Flashback-Vignetten erfahren wir Hintergründe aus seiner Kindheit, seine komplexe Beziehung zu seinem älteren Bruder (der ihn einerseits vor Prügeleien beschützt, andererseits auch beim Vater verpetzt, was recht schön vorbereitet, dass Elliot trotz seiner eigenen Erfahrungen nie gelernt hat, wem er vertrauen kann bzw. dass es eben besser ist, niemandem zu trauen), was aus dem bloßen Repräsentanten des Imperialismus einen menschlichen Charakter mit Ecken, Kanten, Höhen und Tiefen macht, derin der Gefangenschaft auch eine persönliche, psychologische Katharsis durchmacht. Dagegen steht die namen- und formlose Gruppe der Entführer, deren Ziele, wie auch schon gesagt, weitgehend undefiniert, austauschbar bleiben und aus der nur drei Figuren herausragen – „Schwarzbart“ als Sprecher der Gruppe, der freundlich und charmant sein kann, aber hinter seinen Sadismus hinter politischen Zielen verbirgt, Nim, die einzige Frau der Gruppe, die für Elliot die Person der menschlichen Ansprache ist und, obwohl nicht mit einer Silbe Dialog ausgestattet, der „Doktor“, der die eigentlichen Folterungen vornimmt bzw. vorbereitet und schon fast die Ausstrahlung eines klassischen Slasher-Serienkiller-Charakters annimmt.

Kurz (hähä) gesagt, ein rundes, in sich stimmiges Script, das nicht in plumpes antiamerikanisches Bashing verfällt, sondern sich hier lediglich einen aktuellen zeitgeschichtlichen Bezug aussucht, um eine universelle Geschichte zu erzählen.

Filmisch kommt Langfilmdebütant Hynd mit vergleichsweise einfachen Mitteln aus – ein Studio-Set, in dem sich grob geschätzt 90 % der Handlung abspielt, in dem außer einer Matratze und ein paar Stühlen sprichwörtlich nix steht, größtenteils Handkamera, gelegentlich unterbrochen durch Ansichten der Überwachungs-Kameras (an dieser Stelle ein Lob an Kameramann Trevor Brooker, der das Kunststück fertigbringt, die Handkamera modisch zappelig, aber nicht nervig, und die Intimität der Handkamerashots nie aufdringlich wirken zu lassen. Brooker debütierte übrigens 1985 mit dem noch britisch produzierten „Max Headroom“-Pilotfilm), überlässt ansonsten die Bühne komplett seinem Hauptdarsteller (ich muss vorgreifen) Jason Behr, den ich bislang eher als „just another pretty face“ eingestuft (eingedenk „Roswell“, außerdem war er natürlich im US-„Grudge“ und im koreanischen Big-Budget-kaiju-Versuch „D-War“ am Werke) und eher nicht als kapablen dramatischen Darsteller. Die Gelegenheit zur one-man-show nutzt Behr weidlich aus, bringt die Facetten des Charakters voll zum Tragen und schafft es, Sympathie und Mitgefühl für seine Figur zu erzeugen – seine Co-Stars haben da wenig Raum zur Entfaltung (schon allein wegen der Maskierung). Emma Catherwood und (vor allem) Joe Ferrara leisten in ihren Rollen beachtliches, was auch für Tam Dean Burn in der stummen, aber ungeheuer wirkungsvollen Rolle des „Doktors“ gilt.

Nach dem kurzen Ausflug zu den darstellerischen Leistungen zurück zum Film – obwohl eher in gemächlicher Gangart erzählt, entwickelt Hynd über die Laufzeit einen erstaunlichen Sog, der im Finale in nahezu nervenzerfetzender Spannung kulminiert. Und was einen echten Regisseur von einem simplen Hanswurst wie Eli Roth unterscheidet – er braucht dafür nicht mal sudelige Gore-Effekte. „Senseless“ kommt (der KJ-Freigabe, die ich trotzdem für durchaus gerechtfertigt halte, alldieweil die bösartige Stimmung des Streifens schon fies genug ist, zum Trotz) mit einem absoluten Minimum an blutigen Effekten aus. Nur die allererste Folter wird überhaupt im Bild gezeigt, bei den restlichen Aktionen belässt es Hynd dabei, im letzten möglichen Sekundenbruchteil wegzublenden und damit, wie von mir schon an anderer Stelle gerne mal erwähnt, die Gewalt *im Kopf* des Zuschauers stattfinden und sie somit noch härter wirken zu lassen. Die Auswirkungen der Torturen sind (soweit nötig und möglich) mit unspektakulären, aber absolut zweckmäßigen Make-ups ins BIld gerückt. So macht das Sinn, so verkommt Gewalt nicht zum Selbstzweck, so entkommt ein Film, der geradezu dafür prädestiniert war, dem Torture-Porn-Ghetto der unprivilegierten Proleten-Gorebauern-Filme.

Bildqualität: Ascot Elite legt den Streifen im sauberem anamorphen 1.78:1-Widescreen vor. Wie es sich für einen aktuellen Release gehört, gibt’s an der Bildqualität nichts auszusetzen. Der Look ist in der „Haupthandlung“ ist gelegentlich bewusst grobkörnig (speziell in den Webcam-Einstellungen), Schärfewerte und Kompression bewegen sich im überdurchschnittlichen Bereich.

Tonqualität: Deutscher und englischer O-Ton werden in Dolby Digital 5.1 vorgelegt. Beide Tonspuren sind rauschfrei, großartige Surround-Effekte sind nicht zu erwarten, die Tonmischung weiß zu gefallen.

Extras: Da könnte es ein wenig mehr geben als den Trailer und eine Leseprobe aus dem Roman (und die obligate Trailershow). Audiokommentar und Interviews wären hier wünschenswert gewesen.

Fazit: Fetziger Cover-Spruch gefällig? „Big Brother“ meets „Hostel“ in gut? Nee, das ist doof…

„Senseless“ hätte vielfältige Gelegenheit gehabt, sich selbst in den Graben zu fahren, aber glücklicherweise widersteht Simon Hynd der Versuchung, aus seinem Film einen hippen Nachzieher zur „Hostel“-Welle zu machen und lässt den Streifen als das wirken, was er auch von der Vorlage her ist – einen harten, zwingenden, stringenten psychologischen Thriller, der den Zuschauer da packt, wo’s weh tut – beim Mit-Zittern mit dem unglückseligen Elliot – und darüber hinaus noch den zweiten Layer, den der „Beobachtung“ draufsetzt, und auf seine direktere, nicht (wie z.B. bei Funny Games vom Elfenbeinturm herab diktierte Art zum Nachdenken über das eigene Verhalten anregt (und zudem die Message auch noch übertragbar auf andere „Lebensbereiche“ macht, denn der Sprung vom hiesigen Szenario zu quotemgeilen Demütigungs-Reality-TV ist nicht weit). Respekt – nach „London to Brighton“ ist „Senseless“ in kürzester Zeit der zweite Ascot-Titel, der beweist, dass die jungen wilden Briten ein geschicktes Händchen dafür haben, spannendes Unterhaltungskino mit signifikantem, aktuellem Subtext zu versehen. Nicht nur ein guter, sondern auch ein wichtiger Film!

(Hinweis: die KJ-Fassung ist geschnitten)

4/5
(c) 2008 Dr. Acula


mm
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