Nothing to Lose

 
  • Deutscher Titel: Nothing to Lose
  • Original-Titel: TBS
  • Alternative Titel: Nothing to Lose - Die Seele eines Monsters |
  • Regie: Pieter Kuijpers
  • Land: Niederlande
  • Jahr: 2008
  • Darsteller:

    Theo Maassen (Johan), Lisa Smit (Tessa), Bob Schwarze (Joska), Ria Marks (Therapeutin), Flip Filz (Johans Anwalt), Menno van Beukum (Richter), Pim Lambeau (Oma), Sacha Bulthuis (Johans Mutter)


Vorwort

Vatermörder Johan verbüßt seit Jahren in einer psychiatrischen Klinik seine Strafe – regelmäßig wird ihm Bewährung verweigert, weil er auch seine Schwester getötet haben soll, was er heftig abstreitet, seinem Vater anlastet und demzufolge als uneinsichtig gilt. Seine Mutter, die einzige, die seine Version der Dinge bestätigen könnte, verweigert aber jeden Kontakt mit Johan und bleibt auch den Bewährungsanhörungen fern – so auch bei seiner letzten Chance von der lebenslangen Sicherheitsverwahrung. Mit Hilfe des durchgeknallten Mithäfltings Joska bricht Johan aus der Klinik aus. Weil ihn berechenbarerweise sein erster Weg zum Elternhaus führt (das leer steht), ist die Polizei schnell auf seinen Fersen. In einer Kurzschlussreaktion nimmt er das dreizehnjährige Mädchen Tessa als Geisel. Für Kidnapper und Geisel beginnt eine Odyssee durch Holland und Belgien, auf der Suche nach Johans Mutter, um ihr eine Johan entlastende Aussage abzuringen. Nachdem Tessa anfänglich versucht, Tankwarte und andere Begegnungen am Straßenrand auf ihre Lage aufmerksam zu machen, entwickelt sich zögerlich ein Vertrauensverhältnis, weil Johan trotz seiner Grobschlächtigkeit gar nicht so das Monster zu sein scheint, für das er gehalten wird.


Inhalt

Die Niederlande sind für gewöhnlich auch nicht gerade als Brutstätte international renommierten Thrillerkinos bekannt. Jenseits von Dick Maas nun mehr auch schon ein paar Lenzen zurückliegenden besten Zeiten und dem vor einiger Zeit hier besprochenen Godforsaken fiele mir jedenfalls kein Thriller von nennenswertem Stellenwert ein (Paul Verhoevens holländische Filme fallen ja auch nicht wirklich unter die Thriller-Kategorie). Und, siehe da, die Connection funktioniert, denn niemand anderes als Pieter Kuijpers dirigierte auch „Godforsaken“, der es sich wohl, auch seine Filmographie zwischen diesen beiden Werken in Betracht gezogen, zur Aufgabe gemacht hat, das holländische Genrekino notfalls im Alleingang zu stemmen.

Wobei bereits „Godforsaken“ andeutete und „TBS“ (der für Teutonen unverständliche Originaltitel bezieht sich darauf, wie unsere Freunde aus dem Land der Käse und Grachten psychiatrische Klinken für Kriminelle nennen bzw. abkürzen) deutlich macht, dass Kuijpers kein Interesse an spekulativen Gewaltexzessen hat, sondern sich primär für die Charaktere und die psychologischen Implikationen interessiert; so gesehen ist ein Stoff wie „TBS“, der schon in der Psychoklinik beginnt, wie gemalt für den Filmemacher, denn um’s Psychologisieren kommt man bei dem Setup gar nicht drum rum. Kuijpers Protagonisten – letztlich handelt es sich um ein Zwei-Personen-Stück, in dem die anderen Figuren hauptsächlich Stichwortgeber sind – sind beide angeschrammte Persönlichkeiten: bei Johan, dem Vatermörder, ist es offensichtlich (sexueller Mißbrauch wird impliziert), Tessa, seine Geisel, stammt auch aus einer eher dysfunktionalen Familie, hat ein geringes Selbstwertgefühl, findet sich – dank Zahnspange – häßlich (und freut sich daher ehrlich, als Johan sagt, er finde sie attraktiv, was beim Zuschauer freilich ein gewisses Unwohlsein auslösen dürfte), so dass es psychologisch glaubhaft erscheint, dass Geisel und Geiselnehmer füreinander Verständnis und Zuneigung entwickeln.

Die entscheidende Frage, um deren Beantwortung der Film sich so lange wie möglich zu drücken versucht (wobei auch weniger gewiefte Zuschauer vermutlich recht schnell korrekt vorhersagen können, wie die Antwort letztlich lautet), ist natürlich die, ob Johan nun wirklich der Schlimmfinger ist, wie alle Welt es ihm einzureden versucht, oder doch eher Opfer als Täter (sowohl Opfer väterlichen Mißbrauchs als auch des Strafvollzugs bzw. der klinischen Komponente desselben). Das filmische Stilmittel, das Kuijpers hierfür verwendet, ist konsequentes Wegblenden in „Gewaltsituationen“, so dass der Zuschauer über den Ausgang der Szene im Ungewissen gelassen wird und erst später die Resultate gezeigt werden, verbunden eben mit der Überlegung, ob Johan die Tat begangen hat (und da wir durchaus in gewisser Weise mit ihm sympathisieren sollen, eher nicht davon ausgehen wollen) oder es einen „alternativen“ Hergang gibt, der den Protagonisten „unschuldig“ belässt. Es wird jetzt ein wenig SPOILER-riffic, also weiterlesen auf eigene Gefahr. Diese, nennen wir es mal, „Hoffnung“ auf das Gute im Mörder nimmt uns Kuijpers aber sukzessive weg – bei der ersten Situation gibt es noch eine zweite Figur, die die Tat begangen haben könnte, bei der zweiten Situation lässt man uns sehr lange im Unklaren, *was* passiert ist, bei der dritten Situation allerdings kennt Kuijpers dann kein Erbarmen mehr und hält drauf – und doch bleibt die Sympathie für den Mörder zunächst erhalten, denn eine gewisse moralische Rechtfertigung kann man sich zurechtlegen (bis zum Schluss-„twist“) und speziell die Beziehung zwischen Johan und Tessa nimmt in der Folgezeit eine Wendung von der eher zweckorientierten Gemeinschaft (Johan braucht Tessa als Geisel, Tessa muss darauf vertrauen, dass Johan sie wieder wie versprochen zurückbringen wird) zu einer gegenseitigen Zuneigung, die auf ehrlichen Gefühlen zu basieren scheint (bis hin zum klassischen Stockholm-Syndrom). In dieser Phase erinnert „TBS“ von der Schilderung seiner Figuren ein wenig an Luc Bessons „Leon – der Profi“, in dem – unter anderen Voraussetzungen – ebenfalls eine ungewöhnliche Killer-/Kind-Beziehung im Mittelpunkt steht (der Eindruck verstärkt sich noch dadurch, dass auch hier das Kind dem Erwachsenen intellektuell überlegen ist).

Nun ist ein reines Charakter-Drama zwar ’ne feine Sache, aber nicht der Oberthrill, weswegen Kuijpers in der zweiten Filmhälfte, in der zumindest einige wichtige Punkte bereits geklärt sind, etwas mehr auf Spannung Wert legt und gleichzeitig noch weitere kritische Seitenhiebe austeilt. Konnte man in der Auftaktphase zumindest für möglich halten, dass Kuijpers auch Kritik an der Verwahrung von Straftätern in Psychokliniken üben will (dies aber durch den Schluss-Twist wieder negiert), so greift er in der zweiten Hälfte, die die „Rückreise“ von Johan und Tessa von Belgien nach Holland schildert, das Thema Polizeikompetenz (oder -inkompetenz) und sensationsgeile Medien auf; sicherlich nicht gerade originelle Ansatzpunkte, aber halt auch immer noch gültige Angriffsziele. Wenn Johan nach erfolgreichem Durchbluffen einer Straßensperre von Dutzenden interviewgierigen Journalisten belagert wird, kann ein älteres Semester wie meinereiner nicht umhin, sich an das Geiseldrama von Gladbeck (das entgegen seiner geographischen Einordnung durch das gängige Schlagwort u.a. auch in die Niederlande führte und demzufolge auch dort Eindruck hinterlassen hat) zu erinnern und sich die zumindest kontroverse Rolle der Journaille in diesem Zusammenhang erneut vor Augen führen (wer damals noch nicht auf der Welt war oder sich zumindest nicht für diese Dinge interessierte – Journalisten führten damals in Fußgängerzonen Live-Interviews mit den Geiselgangstern und gaben denen Tipps zum Umgehen von Polizeisperren oder beschrieben Ermittler, die den Gangstern eventuell als Austauschgeiseln untergeschoben werden könnten… auf der anderen Seite trugen Pressevertreter auch zur Freilassung von Geiseln bei). Speziell in dieser Phase fällt es schwer, sich *nicht* mit Johan zu identifizieren, der nur sein Versprechen, Tessa sicher nach Hause zu bringen, erfüllen will…

Ich bin, und das ist dann hoffentlich der letzte SPOILER-haltige Absatz dieses Reviews, nicht ganz glücklich mit dem Schluss-Twist (jetzt wird’s extrem SPOILERig, be aware) der zwar letztlich nur ausformuliert, was wir als Zuschauer durchaus schon vermuteten, nämlich, dass Johan wirklich der Mörder seiner Schwester ist und demzufolge Tessas Stockholm-Syndrom-bedingte Idee, unbedingt bei ihm bleiben zu wollen, eine ganz miese ist, aber es befriedigt nicht wirklich, da es zumindest mir auch psychologisch nicht gedeckt zu sein scheint (Johan ist mir während des Filmverlaufs zu nett, um dann einen solchen character turn hinzulegen, auch wenn’s letztlich irgendwo eine Art „Unfall“ ist…); unter Berücksichtigung der Auftaktphase, in der Kuijpers vorgeblich darauf herumreitet, dass die „gestörten“ Straftäter in der Psycho-Haft mit nutzlosen, un-individuellen Therapien genervt und mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden und dies zunächst mal als Anklage dieses Systems verstanden werden kann, macht das Finale einen erheblich reaktionäreren Ansatz (nämlich, dass solche Therapien generell sinnlos sind und man solche Straftäter dann doch eher… naja, lest die BILD-Zeitung und Ihr wisst, was ich meine) denkbar.

Filmisch betreibt Kuijpers „TBS“, wie schon gesagt, hauptsächlich als Zwei-Personen-Road Movie, in denen die Begegnungen am Straßenrand weniger handlungsrelevant denn bedeutend für die Entwicklung der Charaktere und ihre Beziehung zueinander sind. So sind film-handwerkliche Kabinettstückchen nicht zu erwarten. „TBS“ nimmt sich nach der recht flotten Eröffnung, die Johans Background etabliert und den Ausbruch aus der Klapse schildert, spannungs- und tempotechnisch eine längere Auszeit für „character stuff“ und öffnet sich erst im letzten Dritten wieder den Sehgewohnheiten des Mainstream-Filmguckers. Wesentliches Stilmittel-/mätzchen ist die (von mir allerdings eher als Unart verstandene) Sitte, längere dialogarme Sequenzen durch das Entfernen einzelner Frames zu „beschleunigen“. Ich weiß nicht, was mich genau daran stört, aber das ist so ein verkrampfter Versuch, „stylisch“ zu sein, der den Zuschauer doch nur immer wieder daran erinnert, es „nur“ mit einem Film zu tun zu haben – gerade bei einem Streifen wie „TBS“, der sich um einen realistischen Anspruch bemüht, sind solche klaren „Draufschubser“, dass wir fiktive Ereignisse betrachten, m.E. kontraproduktiv. Ansonsten ist die Inszenierung konventionell, einem Road Movie mit zwei klaren Hauptfiguren angemessen intim.

Die FSK 16 rechtfertigt sich durch einen Gewaltausbruch und die Resultate von zwei weiteren. Angemessen.

Die darstellerischen Leistungen sind beeindruckend – Theo Maassen überzeugt als grobschlächtiger, aber dennoch sanfter Johan; man nimmt ihm ab, das ihm alles „irgendwie“ leid tut, dass sein Johan nicht voll verantwortlich für seine Taten ist. Maassen war in zwei holländischen TV-Serien („Waltz“ und „Dunya en Desie“) in wichtigen Rollen zu sehen, einen Mini-Part staubte er in Verhoevens Euro-Comeback „Black Book“ ab. Die vierzehnjährige Lisa Smit (schon in Kuijpers Fantasy-Horror-Abenteuer „De Griezelbus“ aktiv) verdient sich mein allerhöchstes Lob für Kinderdarsteller – sie ist glaubhaft, eindrucksvoll und zeichnet sich durch unerwartet anrührende chemistry mit Maassen aus. Der Rest des Ensembles rekrutiert sich aus routinierten TV-Akteuren.

Bildqualität: Der 1.85:1-Widescreen-Transfer (anamorph) bietet zufriedenstellende Resultate; bei einer nicht üppig budgetierten Euro-Independent-Produktion, noch dazu einer mit einem intimen Thema, rechnet man von Haus aus nicht mit einem Hochglanz-Produkt. Schärfe, Farben und Kontrast bewegen sich um soliden Bereich, die Grobkörnigkeit ist beliebtes Stilmittel bei Filmen dieser Art und daher nicht negativ anzurechnen. Die Kompression arbeitet klaglos und unauffällig.

Tonqualität: Deutscher und niederländischer Ton werden in Dolby Digital 5.1 vorgelegt. Die deutsche Synchro ist qualitativ gut ausgefallen, leistet sich aber einen ziemlich heftigen Goof, der mehr oder weniger ungezwungen kurz nach Halbzeit die Pointe des Films spoilert. Von der Klangqualität her erfüllt die deutsche Tonspur die Ansprüche, die man an einen aktuellen DVD-Release stellen muss, ohne (da der Film dafür auch nicht wirklich Anlass bietet) die heimische Dolby-Anlage vor wändeerzitternde Aufgaben zu stellen.

Extras: Leider nur der Trailer und eine Trailershow. Ein paar Statements von Regisseur und Schauspielern wären hier vielleicht ganz erhellend gewesen.

Fazit: Wie so oft mag man die Einschätzungen von Presse und werten Net-Kritiker-Kollegen („bester Serienkiller-Thriller seit langem“, schreibt die NY Times, was in vielfacher Hinsicht Blödsinn ist, „atemlos und überwältigend“ meinen die Kollegen von zellulod.de) nicht ganz nachvollziehen. „TBS“ ist in seinen besten Momenten durchaus berührend, zum Finale hin recht spannend, aber höchstens halb so überraschend und mitreißend wie gewollt (und, wie gesagt, mit möglicherweise reaktionärer Moral gesegnet), lebt weniger von seiner originellen Story als von seinen ausgezeichneten schauspielerischen Leistungen – Maassen und Smit sind besser als ihr Material und verleihen ihren Figuren eine Tiefe, die das Script allein nicht überzeugend vermitteln könnte. Letzten Endes einmal mehr Arthouse-„Thrill“ mit eingeschränktem Mainstream-Potential, was freilich an sich nichts von Haus aus Schlechtes sein muss, allerdings zeigten z.B. London to Brighton, dass man als Filmemacher durchaus auch mit einem un-spekulativen Ansatz spannende Filme für ein breiteres Publikum drehen kann (und das aus noch heikleren Themen). „TBS“ ist aber, und auch das ist ja was wert, ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem unausgegorenen „Godforsaken“. Von Lisa Smit, meine ich allerdings, sollte man noch hören (bzw. sehen).

3/5
(c) 2008 Dr. Acula


mm
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