- Deutscher Titel: Nerves
- Original-Titel: Nerves
- Regie: Ralf Möllenhoff
- Land: Deutschland
- Jahr: 2010
- Darsteller:
Michael Möllenhoff (Jan), Oliver Peick (Leo), Roland Riemer (Der Meister), Tom Bronx (Stefen), Markus Masur (Dr. Schmalwerk), Tanja Waldmann (Jans Frau), Luke Romero Möllenhoff (Jans Sohn)
Vorwort
Jan, Leo und Stefen, drei Stadtplaner, haben sich vorgenommen, eine abgelegene, „vergessene“ Ecke, die seit einiger Zeit nicht mehr auf den offiziellen Karten auftaucht, zu erkunden. Kaum in der „Geisterstadt“ angekommen, werden sie von einem Verrückten angegriffen, der Stefen eine Hand mit der Heckenschere abschneidet, sich des Fahrzeugs der Planer bemächtigt und den gestrauchelten Stefen mit voller Absicht überfährt. Jan rettet sich ins nächstbeste Haus, das sonderbar, da hauptsächlich mit Weihnachtsmotiven dekoriert ist und dessen Bewohner Jans Hilfeansinnen eher indifferent gegenübersteht und nur auskunftet, im „Schlachthof“ gegenüber ’ne Menge zu tun zu haben. Es bleibt Jan also nichts anderes übrig, als auf eigene Faust nach Hilfe zu suchen, aber das sieht schlecht aus. Vielmehr stößt er auf aufgeschnippelte Körper, mehr kranke Weihnachtsdeko und obskure Wunschzettel. Langsam reimt Jan sich zusammen, dass der gegenüberliegende Gebäudekomplex vor Jahren eine Irrenanstalt war, deren Chefarzt einen verhängnisvollen Fehler beging. Um seine kranken Kinder zu retten, vertraute er einem Insassen, der, von der Leine gelassen, nun immer noch seinen wahnsinnigen – und blutigen – Vorlieben nachgeht…
Inhalt
Ich gebe es zu, Lünen ist nicht gerade einer der Orte, den ich als Brutstätte deutscher Independent-Horrorfilme im Verdacht hatte (allerdings auch nicht Moers). Nichtsdestotrotz treibt auch in dieser Provinz ein Filmteam sein Unwesen – R.I.P. Independent um Ralf Möllenhoff wurden in der Szene erstmals durch den Super8-Zombiefilm „Dead Eyes Open“ (der auch eine kommerzielle Auswertung erlebte) auffällig.
Für „Nerves“ legte Möllenhoff die Super8-Kamera mal zurück in den Schrank und griff zu Digi-Video; außerdem darf’s anstelle der gewollten Romero-Hommage mal eine etwas andere Story sein. „Nerves“ ist im Vergleich zum üblichen Slasher- oder Untotenklopper, mit dem sich ein Gutteil der Indie-Szene immer noch beschäftigt, schon eine fast surreal anmutende Angelegenheit, die ihre Inspiration aus der Poe-Kurzgeschichte „The System of Dr. Tarr and Professor Fether“ bezieht; außer dem Storykniff „inmates running the asylum“ ist von der Poe-Story (die ich, wenn ich das mal unbescheiden in meiner Drittexistenz als Literaturkritiker sagen darf, nicht für eines der allergrößten Highlights des Morbidlings halte) nicht viel übriggeblieben – sofern man überhaupt davon ausgehen will, dass „Nerves“ die Ambition hat, eine Geschichte im Wortsinne zu erzählen (was in dem Fall nicht unbedingt etwas Negatives ist).
Wenn ich ehrlich bin, schuldet „Nerves“ vielleicht weniger der Tradition von Poe als vielmehr der seines Nachfolgers H.P. Lovecraft, dessen Stärke auch nicht unbedingt darin lag, schlüssig aufgebaute, geschickt konstruierte Geschichten zu erzählen, als vielmehr Stimmungen, Atmosphäre und ein generelles Gefühl des „unweltlichen“ Unbehagens zu verbreiten. Ähnlich wie der typische Lovecraft-Protagonist muss sich auch Jan größtenteils allein durch ein undurchsichtiges, bizarres Mysterium kämpfen (was sich dann auch auf den Zuschauer, der exklusiv Jans Kenntnisstand zur Verfügung hat und quasi stellvertretend von ihm durchs Prozedere geführt wird, überträgt), wobei er auf beunruhigende Bilder, teils real, teils „eingebildet“, stößt, sich einerseits versucht, einen Reim darauf zu machen, aber andererseits aber auch auf einer persönlich-psychologischen Ebene von ihnen angegriffen wird (wenn wir z.B. herausfinden, dass Jan in der zweiten Filmhälfte von Schuldgefühlen geplagt wird, weil es seine Idee war, die „vergessene“ Straße zu überprüfen, um damit Pluspunkte bei seinem neuen Chef zu sammeln – den Job bekam er nämlich nicht aufgrund von Qualifikation, sondern über „Vitamin B“).
Möllenhoff schildert dieses Eintauchen in eine Welt des Grauens (und des blutigen Gesplatteres, nicht, dass jemand meint, wir würden es hier mit einem rein verkopften Horrorfilm zu tun haben) oftmals mit langen, völlig dialogfreien Passagen, in denen Jan durch die Gänge und Zimmer des Hauses streift, Entdeckungen der unangenehmen Natur macht, ab und an auch in eine Traumsequenz abgleitet und langsam aus den von ihm gefundenen Indizien das Puzzle zusammensetzt. In einem geradezu erstaunlichen erzählerischen Kunstgriff führt Möllenhoff seinen Protagonisten nach solchen Phasen quasi ins „Wohnzimmer“, einen Ruheort, in dem Jan über seine Entdeckungen reflektieren kann – und sich als „Ansprechpartner“ seine Frau und seinen Sohn herbeivisualiert; ein durchdachtes Gimmick, das man , vorurteilsbehaftet, wie man nunmal (und zumeist mit gutem Grund) ist, nicht unbedingt im deutschen Indie-Horrorsplatterfilm suchen würde.
Fast schon zwangsläufig hält „Nerves“ diesen Ansatz nicht bis zum Ende hin durch und versucht, im dritten Akt wieder die Kurve zu narrativem Erzählkino zu finden; Jan findet mit seinem Kollegen Leo einen realen Partner (und, da Leo schon diverse Eingeweide aus der Bauchdecke sabbern, auch jemanden, den er „retten“ muss) und der zuvor lediglich einige wenige Male als potentielle Strippenzieher aufgetretene „Meister“ wird zum klar definierten Antagonisten (auch wenn seine Motive vage bleiben. Er hat sichtlich ein paar Steine zu wenig auf der Schleuder, eine gewisse Fixierung auf Weihnachten und operiert gern. Das kombiniert sich dann dazu, dass er seine Opfer in willenlose sort-of-Zombies umbaut und sie in Weihnachtsmannkostüme steckt. Das bin mal möglicherweise wieder nur ich, aber ich habe mittlerweile eindeutig zu viele Filme um mordende Santa-Kläuse gesehen, um von diesem Bild noch ernsthaft erschreckt oder beunruhigt zu werden, sondern fühle mich eher erheitert, was nicht ganz Sinn der Übung sein dürfte). Aber dennoch – wenn ich „Nerves“ mit Krams wie Camp Corpses, Kadaver oder dem üblichen Schnaas-Quark vergleiche, spielt Möllenhoff intellektuell schon in einer anderen Liga. Man merkt, da steht ein (hochtrabend werd) künstlerisches Konzept dahinter, das ist darauf angelegt, nicht über eine platte Story als vielmehr über „imagery“ zu punkten, und das nötigt Respekt ab.
Technisch ist das sicher noch verbesserungsfähig – Kameraführung und Schnitt sind gelegentlich recht hakelig, Achsensprünge oder unschlüssige Perspektivenwechsel reißen ab und an aus dem „Fluss“ des Films (was freilich auch der noch mangelnden Erfahrung mit dem Digital-Medium geschuldet sein kann. DV filmt sich dann halt wohl doch etwas anders als Super8), der überdies, seinem gesamten Stil entsprechend, keine Tempogranate ist, sondern eher traumwandlerisch schleichend voranschreitet (und wo ich den Schnitt gerade kritisiert habe… es gibt auch die ein oder andere, speziell für Indie-Verhältnisse, überragend montierte Szene). Der grobe, ungeschliffene „Grindhouse“-Look ist beabsichtigt und passt ziemlich gut zur allgemeinen Stimmung des Streifens. Ich hätte mir gewünscht, dass der Streifen etwas mehr aus seiner wirklich amtlichen Location (übrigens existiert das Gebäudeensemble exakt so wie im Film geschildert) des heruntergekommenen Beton-Industrie-was-immer-das-früher-mal-war-Komplex macht als sie nur im Finale richtig einzusetzen, aber das wäre möglicherweise der Atmosphäre der ersten beiden Akte nicht dienlich gewesen.
Ein Sonderlob geht an die Abteilung Set-Dekoration, die sich wirklich redlich (und erfolgreich) müht, das „Weihnachts“-Thema konsequent durchzuziehen und zu einem prägenden Bestandteil des Films zu machen. Auch an den gelungenen, stimmungsvollen Score von Dimitri Dodaras dürfen Komplimente verteilt werden.
Ja, nuu, und Splatter gibt’s auch, und der ist nicht von schlechten Eltern. Ich bin echt positiv überrascht – das Team von „Headhunter FX“ hat hier Gore- und Splattereinlagen hingelegt, die ich der technischen Güte und dem, ähem, Realismus im Indie-Bereich nur selten sehe. Durchaus explizit ist von abgetrennten Armen, extrahierten Gehirnen, Gedärm, Kunstblutschwällen bis hin zu ziemlich echt aussehenden Skeletten alles vertreten, was des Gorehounds schwarzes Herz begehrt, aber nur selten selbstzweckhaft, sondern meist dosiert und nicht over-the-top eingesetzt (bevorzugtes Totschlagargument ist übrigens der Hammer).
Stoffe wie dieser, die erstens einen etwas anderen Ansatz verfolgen als der typische maskierte-Killer-schnetzelt-Teen-Cast-nieder-Heuler und noch dazu auf Gedeih und Verderb der schauspielerischen Leistung einer einzelnen Person ausgeliefert sind, haben’s im Indie-Bereich, der vor unentdeckten thespischen Talenten nicht gerade wimmelt, nicht leicht, aber Ralf Möllenhoff hat glücklicherweise in der eigenen Familie einen kapablen Akteur – Michael Möllenhoff macht seine Sache als gepeinigter Stadtplaner Jan wirklich sehr gut und durchaus glaubhaft (wobei prinzipiell erfreut, dass „Nerves“ auch so angelegt ist, dass nicht sechzehnjährige Teenies gestandene Erwachsene spielen sollen); es schadet auch nicht, dass der Streifen passabel nachsychronisiert wurde.
Roland Riemer als „Meister“ ist eine angemessen bedrohlich-undurchschaubare Gestalt und Oliver Peick kann als Leo ebenfalls durchaus überzeugen, wobei „Nerves“ über weite Strecken eine one-man-Show Michael Möllenhoffs bleibt. Tanja Waldmann und Luke Romero Möllenhoff (nach wem der Kleine wohl benannt ist?) erledigen ihre kleinen, aber nicht unwichtigen Rollen als Jans Familie ebenfalls gut.
Zur DVD-Qualität an sich lasse ich mich mal nicht aus, da mir hier ein Screener vorliegt, der mit dem vertriebenen Endprodukt vermutlich nicht so wahnsinnig viel Ähnlichkeit haben wird. Auf rauen Grindhouse-Look darf sich der Käufer, wie gesagt, aber schon mal einstellen.
Fazit: Color me surprised. „Nerves“ ist nicht perfekt (aber wer erwartet das schon vom Drittlingswerk eines Independent-Filmers?), allerdings erfreulich weit weg von den üblichen Klischees des (speziell deutschen) unabhängigen Genrefilms. In seiner indie-untypischen Art, weniger auf einen einfachen Plot und simplen bodycount denn auf düstere, unheimliche Stimmungen, bizarre Bilder und darin untergebrachte verdammt rustikale Splattereffekte zu setzen, hat „Nerves“ schon fast etwas Experimentielles. In der Hauptrolle von Michael Möllenhoff gut geschauspielert und auch mit der richtigen, nicht zu langen Laufzeit, ist „Nerves“ vielleicht nicht Gottes Geschenk an den Horrorfilm per se, aber ein überraschend einfallsreicher, ungewöhnlicher Film, der sowohl Splatterfanatiker als auch Freunde des „etwas anderen“ Independentfilms zufriedenstellen sollte, und dem auch kleinere technische Schwächen nicht gravierend schaden. Für Indie-Fans empfehlenswert!
3/5
(c) 2010 Dr. Acula