Muxmäuschenstill

 
  • Original-Titel: Muxmäuschenstill
  •  
  • Regie: Marcus Mittermeier
  • Land: Deutschland
  • Jahr: 2003
  • Darsteller:

    Jan Henrik Stahlberg (Mux), Fritz Roth (Gerd), Wanda Perdelwitz (Kira), Joachim Kretzer (Björn)


Vorwort

SPOILER-WARNUNG – SPOILER-WARNUNG – SPOILER-WARNUNG

Auf den ersten Blick ist Mux ein ganz normaler Berliner Spießbürger – aber der erste Eindruck täuscht, Mux hat eine Mission, eine Berufung. Ihm geht die Verantwortungslosigkeit, die mangelnde Solidarität der Gesellschaft mächtig auf den Zeiger – im Gegensatz zu anderen Leuten gründet er aber keine Bürgeriniative oder eine Partei, sondern tut was – er überführt Straftäter in Eigenregie und führt sie an Ort und Stelle der Bestrafung zu: ein rücksichtsloser Raser darf nicht nur eine Geldbuße abdrücken, sondern auch das Lenkrad seiner Karre abmontieren, aber auch Ladendiebe, Schwarzfahrer und Stadtparkexhibitionisten sind vor ihm nicht sicher. Das Geschäft boomt – und Mux schafft Arbeitsplätze: er stellt den Langzeitarbeitlosen Gerd ein, der seine Taten zum Wohle der Gemeinschaft auf Video dokumentiert. Mux‘ Methoden sind direkt, demütigend und wider Erwarten – populär… Auch privat läuft’s ganz gut: In Kira, der Serviererin des Hotels, in dem er seine Angelwochenenden verbringt, findet Mux seine Muse, doch er muss erkennen, dass das Mädchen nicht das unschuldig-unbefleckte Wesen ist, von dem er träumt…


Inhalt

Als ich das erste Mal den Trailer auf Muxmäuschenstill gesehen habe (der zweifellos allein einen Preis für den besten Trailer des 21. Jahrhunderts verdient…), war mir klar – den Film MUSST du sehen. Und, ganz entgegen meiner Angewohnheit, Filme, die ich sehen MUSS, im Kino gepflegt zu verpassen, hab ich’s tatsächlich geschafft. Und es hat sich gelohnt. Muxmäuschenstill ist nicht ganz der Film, den man nach dem Trailer erwarten möchte (ungewöhnlich genug heutzutage: praktisch alle Trailerszenen stammen aus den ersten 20 Filmminuten. In den Film muss man tatsächlich noch reingehen, um zu erfahren, wie er ausgeht). Könnte man aus dem Trailer nämlich noch auf eine bitterböse, jedoch immerhin noch zum (schwarzhumorigen) Lachen konzipierte Satire schließen, liegt die Sache im Endeffekt schon deutlich anders (auch wenn rabenschwarzer und politisch unkorrekter Humor zweifellos vorhanden ist). Muxmäuschenstill ist keine Komödie. Wenn man überhaupt Vergleiche ziehen kann, bietet sich der belgische Reality-Schocker Mann beisst Hund an. Wie dort, so werden wir auch hier im „billigen“ Videolook (für Kinohochglanzästheten ist der Film nix) schonungslos Zeugen des Egotrips eines Psychopathen – denn obwohl Mux zweifellos Thesen vertritt, die so verkehrt nicht sind (oder, um’s treffender zu sagen – mehr als einmal sitzt man bei einem von Mux‘ Monologen peinlich berührt im Kinosesell und denkt: „Verdammt, irgendwie hat der Mann RECHT!“), mit dem Unterschied, dass Mux eine gewisse moralische Legitimation für seine Taten hat (bzw. sich einredet) – ernstlich böse sein, wenn Mux Kinderpornographiekonsumenten oder Pädophile zur Brust nimmt, kann man kaum, aber schnell wird deutlich, dass der von Jan Henrik Stahlberg mit nahezu unwiderstehlichem Charme gespielte Wohltäter der Gesellschaft sich selbst quite outside der von ihm aufgestellten Regeln sieht – für SEINE Taten übernimmt er genausowenig Verantwortung wie die „Straftäter“, die er verfolgt. Was der Zuschauer Mux anfänglich an Sympathie entgegenbringt (denn wer hat sich noch nicht über Hundehaufen auf dem Gehweg oder Schwimmbeckenpinkler aufgeregt), verwandelt sich schnell ins Gegentum, wenn klar wird, dass Mux keinesfalls eine nachahmenswerte moralische Autorität ist (auch wenn er sich dafür hält, der Schlüsselmoment ist da, SPOILER, zweifellos die Graffiti-Sprüher-Szene). Und dennoch nagen Zweifel – vertritt Mux nicht irgendwie doch nachvollziehbare Werte, wenn er über den Verfall von Gemeinschaftssinn und Verantwortungsgefühl in einer Bohleninfizierten Nachmittagstalkshow-Raab-Mediengesellschaft spricht? Food for thought – es lohnt sich, über den Film nachzudenken.

Regiedebütant Marcus Mittermeier setzt auf einfache, geradlinige, direkte Bilder – da gibt’s keine künstlerischen Spielereien, keine aufwendigen Kamerafahrten, sondern da wird mit der Videokamera draufgehalten (manchmal etwas direkter, als es sein müsste – realistischer on-screen gekotzt wurde sicher in den letzten Jahrzehnten nicht). Vor Bluteffekten wird nicht zurückgeschreckt (der Film trägt seine FSK 16-Freigabe sicher zurecht), ohne sie zum Selbstzweck zu mißbrauchen (da könnten einige unserer Herren teutonischer Splatterfilmer mal was lernen. Man kann auch ohne große Kohle schocken, ohne nur mit Kunstblut und Fake-Gedärmen um sich zu werfen). Eine gewisse stilistische Verwandschaft zu Dogma-Filmen ist nicht zu verkennen, wenngleich die offiziellen Trier’schen Regeln nicht interessieren, so wird z.B. ein durchaus passender Soundtrack geboten. Ähnlich wie in Lilya 4-Ever verweigert Muxmäuschenstill dem Zuschauer die schützende Distanz durch den dokumentarischen Look.

Schauspielerisch leistet Jan Henrik Stahlberg, gleichfalls Autor der Geschichte, Großes. Sein Mux ist wesentlich vielschichtiger als beispielsweise Michael Douglas‘ D-Fens aus Falling Down (auch ein Film, der gerne als Vergleich herangezogen wird, obwohl dieser Vergleich nicht nur hinkt, sondern schon im Rollstuhl sitzt), er ist charmant, kann liebenswürdig-sympathisch, aber auch ein unausstehliches, selbstsüchtiges Drecksstück sein, und Stahlberg liefert die ganze Palette überzeugend. Kongenial: Fritz Roth als sein Kameramann Gerd („Ich hab ihn ausgesucht, weil er mich an meinen gerade verstorbenen Hund erinnert“), ein typischer Loser, der die Chance begreift, an Mux‘ Seite seine Minderwertigkeitskomplexe zu verarbeiten. Wanda Perdelwitz als Mux‘ „Muse“ Kira überzeugt durch sympathisch-natürliche Ausstrahlung.

Fazit: Muxmäuschenstill sollte sich, wenn’s Gerechtigkeit gibt im Leben, zum Programmkinohit 2004 entwickeln – es ist einer der denkwürdigsten und sehenswertesten deutschen Filme und der Beweis dafür, dass man schwierige, anspruchsvolle Stoffe durchaus so auf die Leinwand bringen kann, dass das Publikum gefesselt ist. Unbedingt anschauen, auch wenn’s nicht immer wirklich angenehm ist!


mm
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