London to Brighton

 
  • Deutscher Titel: London to Brighton
  • Original-Titel: London to Brighton
  •  
  • Regie: Paul Andrew Williams
  • Land: Großbritannien
  • Jahr: 2006
  • Darsteller:

    Lorraine Stanley (Kelly), Johnny Harris (Derek), Georgia Groome (Joanne), Sam Spruell (Stuart Allen), Alexander Morton (Duncan Allen), Nathan Constance (Chum), Chloe Bale (Karen), Jack Deam (Paul)


Vorwort

Die Unterklassen-Hure Kelly und die zwölfjährige Joanne sind auf der Flucht – hinter ihnen her ist Kellys Zuhälter Derek, aber auch nur, weil ihm seinerseits Stuart Allen im Kreuz sitzt, der Vater eines von Dereks Kunden. Der, der steinreiche Duncan Allen, hat nämlich einen eigentümlichen Geschmack, was seine temporären Bettgefährtinnen angeht, jung müssen sie sein. Deswegen hat Derek Kelly losgeschickt, um ein Straßenkind aufzutreiben, das willig ist, vermeintlich schnell und leicht Geld zu verdienen. Aber die Verabredung lief nicht wie gewünscht, Duncan ist hin und jemand, das ist zumindest Stuarts Ansicht, muss dafür bezahlen. Kelly und Joanne flüchten nach Brighton, um bei einer alten Freundin Kellys Unterschlupf zu finden und die weiteren Pläne zu kontemplieren. Ein achtlos liegengelassenes Handy und die Tatsache, dass zugekiffte Idioten an jedes klingelnde Telefon rangehen, führen Derek auf die richtige Spur – und Stuart sitzt schon in den Startlöchern, um die Sache zu Ende zu bringen.


Inhalt

Kindesmißbrauch, Pädophilie, Kinderprostitution – heikle Themen für Filmemacher, die sich damit wie Daniel Mullican mit seinem schon fast widerwärtigen Pädo-„Schweigen der Lämmer“ A Promise Kept in die Nesseln setzen oder, wie Lukas Moodyson mit seinem surreal angehauchten Melodrama Lilya 4-ever, einen der besten 10 Arthouse-Filme dieses Jahrhunderts machen können. Kurz gesagt – ein Thema, an dem sich ein angehender Jungregisseur des neuen britischen Kinos wie Paul Andrew Williams die Finger verbrennen oder großen Eindruck machen kann.

Erfreulicherweise schlägt das Pendel deutlich zugunsten der zweiten Möglichkeit aus. Willams‘ (übrigens an keinerlei wahren Begebenheiten aufgehangenes, frei erfundenes Script, das mit Kelly und Derek zwei Charaktere aufgreift, die bereits in seinem Kurzfilm „Royalty“ aus dem Jahre 2001 auftauchten) Script gelingt über weite Strecken das Kunststück, die Balance zu halten zwischen den Elementen „spannungsgeladener Thriller“ und „emotional berührendes Drama“, vor allem Dank einer im Grunde recht einfachen, aber geschickt konstruierten Geschichte und glaubhaften, echt wirkenden Charakteren. Auf Anraten eines Freundes stellte Williams das ursprünglich linear verlaufende Script strukturell um – wenn wir in den Film einsteigen, ist „das Event“ bereits passiert und Kelly und Joanne bereits auf der Flucht; erst in zwei flashback-Sequenzen dröselt Williams die Vorgeschichte auf, erklärt, wie Kelly Joanne aufgetrieben hat und was in Duncans Haus passierte; allerdings auch nicht vollständig, die entscheidende Information wird erst im Finale enthüllt (man kann sie sich durchaus vorher zusammenreimen). Durch diesen Kunstgriff verleiht Williams dem Plot eine zusätzliche Ebene der Komplexität – „London to Brighton“ ist einer dieser seltenen Fälle, in denen ein Film durch den geschickten Einbau von Rückblenden gewinnt, die nicht-lineare Erzählweise sich als Pluspunkt erweist. Die Verschachtelung erlaubt es dem Zuschauer, die Charaktere, ihre Beziehungen zueinander, zu erkunden und nicht vorgekaut zu bekommen; die Rückblenden verkommen nicht zu beliebigen Expositionsblöcken, sondern finden sich dramaturgisch sinnvoll eingebaut, reißen nicht aus der Geschichte heraus. Dass die Story aus sich heraus funktioniert, ist ein Verdienst der ausgezeichneten Charakterzeichnungen, die auf grobe Schwarz-Weiß-Malerei verzichtet (mit einer Ausnahme, eben dem Kinderschänder Duncan); selbst bei objektiv widerlichen Gestalten wie dem eigentlich verachtenswerten Zuhälter Derek verleiht Williams der Figur Facetten, die sie nicht gerade sympathisch, aber zumindest *menschlich* wirken lassen (da er zudem nicht sonderlich helle gezeichnet ist, bleiben ihm sogar – aus reiner Doofheit – einige witzige Lines, die trotzdem nicht deplaziert, sondern für den Charakter passend wirken) – dass Derek auf Stuarts Druck die Treibjagd auf Kelly und Joanne eröffnet, ist nicht darauf zurückzuführen, dass er Kinderschänder toll findet (seine Motivation, Duncan entsprechendes „Material“ zu besorgen, basiert letztlich darauf, dass es, wenn’s er nicht tut, ein anderer macht), sondern weil er sich von Kelly hintergangen fühlt. Kelly dagegen ist auch nicht die simple „Hure mit goldenem Herzen“ – sie hat zu Beginn der Geschichte (ergo in der Rückblende) zwar Skrupel, Duncan ein Kind zuzuschanzen, aber gefüllte Brieftasche schlägt bei ihr das Gewissen. Die Tatsache, beim eigentlichen „Akt“ quasi dabei sein zu müssen und speziell die sexuelle Spielart, die Duncan sich ausgesucht hat, wecken in ihr die Beschützer- und mütterlichen Instinkte – aber gleichzeitig ist völlig klar, dass sie keine „gute“ Mutter sein kann (nicht nur, weil sie mit einer Zwölfjährigen die Kippen teilt, sondern ihr zur Beschaffung von Geld schlicht nichts anderes einfällt, als sich selbst zu verkaufen). Nicht einmal Joanne ist eindimensional, sie ist keineswegs die reine „gejagte Unschuld“, wie der deutsche Untertitel es behauptet, sondern sie weiß, worauf sie sich – des Geldes wegen – einlässt (natürlich nicht gänzlich, das tun auch Derek und Kelly nicht, aber es ist ihr klar, dass es um Sex geht, dahingehend schenkt Derek ihr reinen Wein ein), eine Ausreißerin aus (freilich) unglücklichem Elternhaus, die tut, als wäre sie hart, taff und „streetwise“, aber am liebsten doch einfach nur Kind wäre. Und in Sachen Stuart Allen komme ich nicht ohne eine dicke fette SPOILER-Warnung aus – seine Figur ist die faszinierendste, und die, die am deutlichsten macht, dass es in diesem Film nur ein „Monster“ gibt, und das ist derjenige, der’s mit Kindern treibt (wenn ich etwas negativ anzumerken habe, dann, dass es Williams nicht gereicht hat, dass Duncan Allen ein Kinderschänder ist, nein, er ist zudem auch noch Bondage-Freak. Immer wieder nett, dass es Filmemacher auch und gerade in Zeiten wie diesen nicht reicht, Pädophilie allein als etwas krankhaftes darzustellen, nein, er braucht noch einen zusätzlichen „kranken“ Fetisch).

Mit dieser Handvoll durchdachter und gut geschriebener Charaktere bestreitet Williams die Geschichte mühelos, lässt ruhige Passagen mit treibenden, schockierenden Sequenzen alternieren (die eigentliche „Tat“ deutet er nur in einigen sekundenbruchteilskurzen Zwischenschnitten an) und verschafft dem Zuschauer ein befriedigendes, grimmiges Happy End, ohne seine Figuren in eine rosarote Zukunft zu entlassen. SPOILER ENDE. Kompliment.

Filmisch bedient sich die gerade mal 80.000 Pfund leichte Produktion (umgerechnet knapp 100.000 Euro), die im Nachhinein noch mit einem satten Zuschuss der britischen Filmförderung bedacht wurde, einfacher, aber wirkungsvoller Mittel. Ausnahmslos alles wurde on location geschossen (der Zuschauer kann davon ausgehen, dass jede im Film zu sehende Wohnung einem der Darsteller, jemandem aus der Crew oder zumindest dem Kumpel eines Bekannten gehörte; einer von Stuarts Henchmen bekam seine Rolle aufgrund der Tatsache, einen passenden grünen Jeep zu besitzen), bei Bedarf auch ohne Drehgenehmigung, und wirkt daher wie gewünscht sehr authentisch, sehr direkt und – zumindest in der Anfangsphase, in der der Film in den heruntergekommenen Ecken Londons spielt – angemessen dreckig. Kamaratechnisch regiert in den Dialogszenen oft beinahe aufdringliche, sehr intensive Handkamera. Williams und seine Crew machen die Not eines schmalen Etats zur Tugend und setzen erfolgreich auf größtmögliche Authenzität. Wie schon gesagt – Williams variiert das Tempo geschickt durch das Setzen ruhiger, manchmal geradezu fröhlicher Passagen im Wechsel mit der düsteren, harten Hauptstory und erlaubt es dem Zuschauer, an der emotionalen Achterbahnfahrt seiner Protagonisten intensiv teilzuhaben. Ich denke, ich habe es schon öfter gesagt, aber low budget kann eine Chance sein – gerade bei einem Stoff wie diesem, der sicherlich nichts weniger braucht als eine gelackte Hochglanzinszenierung trägt der Zwang zu location shoots, intimer Kameraführung und einem eher naturalistischen Approach viel zur Glaubwürdigkeit, zur Echtheit der rauen, schmutzigen Atmosphäre bei. Anstelle technischer Perfektion regiert kostenbewusster Enthusiasmus. Spannend ist’s allemal und emotional anrührend in seinen besten Szenen ebenfalls.

Positiv zu bewerten ist der Score von Laura Rossi, ebenso wie die passend gesetzten Songs (der Song über den closing credits erinnert mich irgendwie an eine Garagen-Variante von Anne Clark).

Die FSK 16 verdient sich der Streifen durch – wenn ich richtig mitgezählt habe – eine kurze Nacktszene (selbstredend nicht von der Kinderdarstellerin) und einigen schlichten, aber blutigen Make-ups.

Die darstellerischen Leistungen sind ausgezeichnet, wirken ehrlich und ungekünstelt – Lorraine Stanley, die beinahe über die vollständige Filmlaufzeit mit einem zugeschwollenen Auge rumläuft, dass Quasimodo neidisch werden mürde, legt in ihre Darstellung der Kelly nicht zu viel an Sympathie und verdeutlicht, dass sie, obwohl zweifellos eine positive Figur des Films, keine klassische „Heldin“ ist. Georgia Groome (zum Drehzeitpunkt 14) verdient sich mein größtes Kompliment an Kinderdarsteller überhaupt – sie nervt nicht und vermag in ihren kindlichen Szenen zu berühren. Johnny Harris, der laut Bonusmaterial schon regelrecht fürchtete, zu „nett“ rüberzukommen, erledigt als Derek einen sehr anständigen Job und zeigt hinter der vorgeblich abgezockten Zuhälter-Gangster-Fassade menschliche Naivität. Und schon allein für die von allen Beteiligten großartig gespielte Showdown-Sequenz gebührt auch Sam Spruell (der mir elendiglich bekannt vorkommt, aber ich nach IMDb-Konsultation mit Sicherheit nichts seiner früheren Werke gesehen habe) höchstes Lob.

Bildqualität: Ascot legt den Streife in anamorphem 2.35:1-Widescreen vor. Gedreht wurde übrigens auf 35 mm, so dass hier keine nachträglichen Filmfiltersetzungen nötig waren. Angesichts der Umstände ist kein perfektes Superbit-Criterion-Bild zu erwarten, aber zweckmäßig gute Bildqualität, annehmbare Schärfe- und Kontrastwerte sowie brauchbare Kompression.

Tonqualität: Hier hat der zahlende Kunde die Wahl zwischen der sehr gut gelungenen deutschen Synchro und dem englischen O-Ton, jeweils in Dolby 5.1, wobei ich wie üblich bei britischen Filmen vor der O-Ton-Spur eine eher grundsätzliche Verständlichkeitswarnung anbringe. Deutsche Untertitel werden allerdings mitgeliefert. Für den Ton gilt gleiches wie für’s Bild, es taugt für den Zweck allemal, aber als Referenzscheibe für die Heimkinoanlage würde ich die Disc nicht verwenden.

Extras: Umfangreiches Bonusmaterial hat sich auf der Scheibe angefunden – neben einem Audiokommentar gibt’s ein Rudel deleted scenes, ein alternatives Ende, Aufnahmen vom Casting Georgia Groomes, behind-the-scenes-Material, den Originaltrailer und ein ausführliches Q&A mit Regisseur, Produzent und den wesentlichen Darstellern. ’ne Menge Zeug.

Fazit: „London to Brighton“ ist sicherlich nicht jedermanns Sache – die Thematik „Kindesmißbrauch“ ist sicherlich nicht dazu angetan, Unterhaltung für die breite Masse in Filmform darzubieten, aber Williams gelingt mit seinem kleinen Low-Budget-Film erfolgreich die Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen „spannender Unterhaltungsfilm“ und „ernsthaftes Drama“ und der Beweisantritt, dass man, wenn man sich Mühe gibt, auch aus einem solchen Sujet einen Streifen machen kann, der nicht in versteinerter, moralinsaurer Betroffenheit versinkt und trotzdem einen ergreifenden und wütend machenden Blick auf ein gesellschaftliches Problem wirft. Dass hier keine technische Perfektion zu erwarten ist, ist eingedenk der Produktionsbedingungen zu verzeihen; sehenswertes junges britisches Kino, auch für ein Publikum jenseits der Arthouse-Fraktion. Daumen hoch!

4/5
(c) 2008 Dr. Acula


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