Lilja 4-Ever

 
  • Deutscher Titel: Lilja 4-Ever
  • Original-Titel: Lilya 4-Ever
  •  
  • Regie: Lukas Moodysson
  • Land: Schweden/Dänemark
  • Jahr: 2003
  • Darsteller:

    Oksana Akinshina (Lilja), Artiom Bogurcharskij (Volodja), Elina Benenson (Liljas Mutter), Lilia Sinkarjova (Tante Anna), Pavel Ponomarjov (Andrej)


Vorwort

Irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion. Die sechzehnjährige Lilja freut sich auf Amerika – ihre Mutter will mit ihrem neuen Freund in die Staaten auswandern. Lilja hat die Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht, auf den lästigen Ballast „Tochter“ haben die ausreisewilligen Erwachsenen keinen richtigen Bock. Und so findet Lilja sich in der zweifelhaften Obhut ihrer nicht nur ziemlich miesepetrigen, sondern auch hochgradig unsympathischen Tante Anna wieder, die nichts besseres zu tun hat, als Lilja in eine selbst für russische Verhältnisse letztklassige Bruchbude umzusiedeln. Ihr einziger Freund ist der jüngere Volodja, ebenfalls ein ungeliebtes Kind aus sozial gehandicapten Verhältnissen. Liljas Mutter schickt weder Geld noch meldet sie sich überhaupt und Tante Anna hat auch keinerlei Ambition, ihre Nichte finanziell zu unterstützen – bald schon sitzt Lilja in einer dunklen und unbeheizten, da stromlos-abgeklemmten Wohnung. Schweren Herzens fällt Lilja nichts anderes ein, als die Methode, mit der sich ihre Freundin Natascha ein Zusatztaschengeld verdient, auszuprobieren: sich in der Disco von Männern für Geld abschleppen zu lassen (was nach dem „Abschleppen“ kommt, muss ich sicher niemandem erklären). In dieser trostlosen Situation erscheint plötzlich der nette Andrej, der Lilja anbietet, sie nach Schweden zu bringen. Volodja ahnt, dass diese Offerte nicht ganz das ist, wonach es sich anhört…


Inhalt

Zu den nicht ganz neuen Thesen im Filmgeschäft gehört es, dass viele aufsehenerregende und irgendwie „andere“ Filme gerne aus Skandinavien kommen – da muss man nicht lange überlegen, bis einem Lars von Trier und seine „Dogma“-Schule, „Elling“ und andere überraschende Kritiker- und (Arthouse-)Publikumserfolge einfallen. Spätestens seit „Raus aus Amal“ zählt auch der Schwede Lukas Moodysson zu den Lieblingen der Freunde anspruchsvollerer Filmkunst. Mit „Lilja 4-Ever“ wagt Moodysson sich an ein schwieriges und auch in gewisser Weise gefährliches Thema – die sexuelle Ausbeutung von Kindern, Mädchenhandel, Kinderprostitution. Wieso das Thema „schwierig“ ist, versteht sich von selbst, „gefährlich“ ist es deshalb, weil man als Regisseur zweifellos das Risiko eingeht, das Sujet voyeuristisch aufzuarbeiten und damit letztendlich die Klientel zu bedienen, die man eigentlich gerechterweise anprangern will. Zum Glück stolpert Moodysson nicht in diese Falle – obwol „Lilja 4-Ever“ zweifellos eine sehr intime „in-your-face“-Richtung einschlägt, wird in jeder Sekunde deutlich, welche Intention hinter dem Film steckt, dass hier etwas angeprangert wird.

Die Geschichte wird niemand, der gelegentlich mal eine Zeitschrift liest, die auf einem etwas gehobeneren intellektuellen Niveau als „PopRocky“ und „Bravo“ liegt, originell vorkommen – aber das ist auch nicht die Absicht. Die Story orientiert sich qualvoll an der Realität – sowohl was die Hoffnungslosigkeit des Lebens in den heruntergewirtschafteten ex-kommunistischen Gesellschaften Osteuropas angeht als auch die Naivität junger Frauen aus diesen Ländern einerseits und die Skrupellosigkeit moralbefreiter Individuen, die sich eben jene aus purer Profitgier zu Nutze machen. Wie Moodysson im Begleitmaterial ausführt, ist der Film beabsichtigt vorhersehbar – der Zuschauer SOLL wissen, wie die Geschichte ausgeht. Ironischerweise ist gerade dieser eigentlich geschickte Schachzug, den Zuschauer zum Mitwisser, gewissermassen zum Komplizen und „Mitttäter“ zu machen, der einzige dramaturgische Schwachpunkt. Gerade eben weil der Zuschauer „mehr weiß“ als die zentrale Figur der Lilja, mag es für Betrachter, denen es mehr auf einen stimmigen Erzählrhythmus, auf einfache Konsumierbarkeit und flüssigen Handlungsvorlauf ankommt, ein wenig lange dauern, bis die Geschichte die vorgezeichnete Richtung „endlich“ einschlägt – will sagen, atemberaubendes Tempo ist zweifellos was anderes, aber das liegt ja auch nicht in der Absicht des Erfinders, soll aber der Vollständigkeit halber angemerkt sein.

Ich bin sicher, Moodysson wird es nicht unbedingt gerne hören, aber stilistisch schuldet der Streifen sicher einiges den „Dogma“-Filmen – die Kamera ist hautnah am Geschehen, verleiht vielen Szenen einen sowohl dokumentarischen als auch klaustrophobischen Anstrich (nicht von ungefähr arbeitet Moodysson auch mit dem renommierten schwedischen Regisseur von sozialkritischen Dokumentarfilmen Stefan Jari zusammen) – dem Betrachter wird selten die Zuflucht geboten, sich einreden zu können, „nur Zuschauer“ zu sein – durch die sehr direkte Kameraführung ist man, um einen DSF-Slogan zweckzuentfremden, „mittendrin statt nur dabei“. Das macht „Lilja 4-Ever“ nicht zu einem besonders angenehmen Seherlebnis – kein Film, den man zur locker-flockigen Abendunterhaltung in den Player wirft, um sich berieseln zu lassen, sondern ein sehr bedrückender, depressiv gestimmter und stimmender Film, der keine Auswege, keine Lösungen anbietet und in dem Hoffnung ein Fremdwort bleibt, höchstens angedeutet durch einige surreal angehauchte Sequenzen, die dem konsequenten Realismus des Films auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, bei tiefergehender Betrachtung aber in sich durchaus stimmig und sinnvoll sind, um das „Innenleben“ der Lilja weiter auszuloten. Für seine düstere, abweisende und verstörende Grundstimmung braucht der Streifen keine plakativen Gewaltszenen (siehe oben, es wäre viel zu einfach, die völlig falsche Zielgruppe zu bedienen) – das Gezeigte ist deutlich genug, ohne ins Detail gehen zu müssen (dennoch wundert mich ehrlich gesagt die FSK-12-Freigabe ein wenig. Nicht, dass ich der Meinung wäre, sie wäre unangemessen), obwohl vielleicht eine Sequenz gen Ende etwas „overdone“ ist (theoretisch kann man den Film eigentlich nicht spoilern, aber ich tu’s trotzdem nicht. Wer den Film sieht, wird sicher darauf kommen, welche Szene ich meine), aber der Film soll und will sein Publikum nicht schonen.

Ein Sonderlob ist an die musikalische Leitung zu vergeben – neben einem sehr sparsam eingesetzten Score verwendet der Soundtrack größtenteils Pop- und Rockmusik, die sich perfekt in den Filmkontext einpasst. Rammsteins „Mein Herz brennt“ als Eröffnungs- und Schlußtitel setzt allein schon durch seine zornige Agressivität Spannungspunkte, wenn die russischen Pop-Schnepfen t.A.t.U. „Not Gonna Get Us“ (allerdings in der russischen Version) beisteuern, bekommt das eine bedrückende Doppeldeutigkeit, ebenso Alphavilles „Forever Young“. Selten wurde aktuelle Musik (bevor jetzt die 80er-Experten berechtigterweise über mich herfallen – von „Forever Young“ muss ein Techno-Remix herhalten) sinnvoller als Stilmittel, als Unterstreichung der Handlung und der Zwischentöne derselben, eingesetzt. Großes Kompliment.

Die schauspielerischen Leistungen sind beeindruckend – Oksana Akinshina liefert als Lilja eine eindringliche, tief bewegende Performance ab, in jeder Facette ihrer Rolle glaubwürdig, dreidimensional, „mitfühlbar“. Ähnliches gilt für Artiom Bogurcarskij als Volodja – das liegt zu einem gewissen Teil sicher an den ungekünstelt wirkenden Dialogen, aber sicher zum überwältigenden Teil an den herausragenden Leistungen der Akteure. Man hat selten bis nie den Eindruck, Schauspielern beim „Spielen“ zuzusehen, sondern echten, realen Menschen in echten, realen Situationen. Höhere Anerkennung kann man den Darstellern in bewusst auf Realismus inszenierten Sozialdramas wohl nicht zollen.

Bildqualität: Sunfilm mausert sich immer mehr. Das Label, das einst mit Heulern wie „The St. Francisville Experiment“ zu punkten versuchte, hat sich zwischenzeitlich zu einem der führenden deutschen Independent-Label für hochwertiges Filmgut entwickelt und das liegt nicht nur an der überwiegend gelungenen Auswahl der veröffentlichten Titel (gelegentliche Ausreißer wie den erlesen drögen „Ginostra“ oder eher zweitklassige Thriller wie den Daryl-Hannah-Film „The Job“ mal außen vor gelassen), sondern auch an der gelungenen Präsentation der Filme. „Lilja 4-Ever“ macht keine Ausnahme. Der anamorphe 1.85:1-Widescreen-Transfer ist erstklassig. Die kühlen, abweisenden Farben werden nicht „aufgeweicht“, der dokumentarische Look durch das gestochen scharfe Bild nicht untergraben (wir haben’s hier mit einem Transfer zu tun, den man, so man wollte, bequem über die komplette Laufzeit im 2- und mit gewissen Einschränkungen sogar im 4-Fach-Zoom anseen könnte). Der Kontrast stimmt ebenfalls, Bildstörungen durch Blitze gibt’s nur ein-zweimal.

Tonqualität: Wie üblich wird bei den Tonspuren bei Sunfilm nicht gegeizt – satte fünf bietet man uns auch hier an. Die deutsche Synchronfassung wird in Dolby 5.1, 2.0 und dts geliefert, der aus Authenzitätsgründen zweifellos vorzuziehende Originalton (überwiegend russisch mit einigen schwedischen und englischen Einsprengseln) in Dolby 5.1 und 2.0 (die deutschen Untertitel machen nach Stichprobenkontrolle im Quervergleich mit der Synchro einen souveränen Eindruck). Yours truly, der O-Ton-Fuzzi, konzentrierte sich auf den originalen 5.1-er-Track und der ist nicht von schlechten Eltern. Natürlich braucht man kein Soundeffektgewitter zu erwarten, dass die Surround-Boxen zum Glühen bringt (dafür wären dann doch eher Kollege Lucas & Konsorten zuständig), aber der Mix ist dennoch brachial (vor allem wenn der Soundtrack richtig voll reinhält) und gleichzeitig kristallklar.

Extras: Sunfilm spendiert „Lilja 4-Ever“ ein 2-DVD-Treatment (allerdings nicht als „Collectors Edition“ wie „Dolls“ oder „Zug des Lebens“, d.h. „Lilja“ muss mit einem ausgesprochen unpraktischen Doppel-Amaray anstelle eines Digipaks auskommen). Auf Disc 1 findet sich neben dem Hauptfilm nur noch eine Trailershow auf andere Sunfilm-Titel, die eigentlichen Bonusfeatures warten auf Disc 2. Neben dem deutschen Kinotrailer (bei sagenhaften 28 Sekunden Länge eigentlich ein Teaser) erwarten uns dort zwei dem gleichen Thema geschuldete Spots des Diakonischen Werks (der, und das ist das Kunststück, den Punkt, für den Moodysson 104 Minuten braucht, in 59 Sekunden macht, ohne an Deutlichkeit zu verlieren) und der Unicef (mit Robbie Williams). Herzstück ist aber ein 94-minütiges Interview mit Moodysson anläßlich eines britischen Filmfestivals. Moodysson referiert dort (in Englisch, mit deutschen Untertiteln) über seine Art Filme zu machen, seine sozialkritischen Gedanken und natürlich den Entstehungsprozeß von „Lilja 4-Ever“. Durchaus interessant. Eine recht unbrauchbar gestaltete selbstablaufende Fotogalerie (unter „unbrauchbar“ verstehe ich z.B., wenn die gezeigten Fotos dank ausschweifender Rahmen und Logos gerade noch mal zwei Drittel des Bildschirms einnehmen) schließt die zweite DVD ab. Gewünscht hätte ich mir Interviews mit den Schauspielern und vielleicht einen Audiokommentar.

Fazit: „Lilja 4-Ever“ ist, wie erwähnt, sicher nicht der Film, den man als entspannte seichte Abendunterhaltung für die ganze Familie ansehen sollte. Dafür ist der Film trotz des Verzichts auf plumpe Voyeurismen zu schonungslos, zu unangenehm, zu „echt“. Wer sich allerdings auf das gewiss nicht unterhaltungswertverdächtige Thema einlässt, wird mit einem psychisch harten, bedrückenden und sehr sehr nachdenklich stimmenden Drama „belohnt“, das seine beabsichtigte Wirkung zweifellos erreicht – am liebsten möchte man sofort sein Scheckbuch öffnen und Haus & Hof einer der Organisationen zu überschreiben, die sich die Bekämpfung der angeprangerten Mißstände verschrieben haben. Ein wichtiger, aufrüttelnder und dabei auch von seinen filmischen Mitteln und der schauspielerischen Umsetzung fast nicht verbesserunsfähiger Film, der von Sunfilm mit der angemessen hochklassigen DVD-Veröffentlichung gewürdigt wird (einzig diese komischen und ausgesprochen unpraktischen Doppel-Amarays, in denen die Einzeldiscs mehr oder weniger aufeinander liegen, find‘ ich ehrlich gesagt nicht wirklich prickelnd).

5/5
(c) 2005 Dr. Acula


mm
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