Krankheit Mensch

 
  • Deutscher Titel: Krankheit Mensch
  • Original-Titel: Krankheit Mensch
  •  
  • Regie: Kompilation
  • Land: Deutschland
  • Jahr: 2007

Vorwort

Als mich Andreas Eisele (Letzten ihrer Art, Die) neulich fragte, ob ich einer DVD für Umme argwöhnisch auf den Laser schielen würde, musste ich nicht lange nachdenken. Gratis-Sichtstoff steht der Doc bekanntlich immer aufgeschlossen gegenüber und was es mit „Krankheit Mensch“ auf sich hat, war mir ja ungefähr geläufig, seit ich vor einiger Zeit „Moloch“ besprochen habe (nachzulesen unter Wie gedruckt… / Moloch).

Bei dieser Kompilation handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt diverser Independent-Filmcrews (Fist Productions, Goreholio Filmworks, Get-A-Life Productions, Viva.Laonda und KX/RM Entertainment), die sich auf ein oder andere Weise den Symptomen der titelgebendenen Seuche (freundlicherweise auf dem Cover als „Gewalt, Missbrauch, Folter und Mord“ identifiziert) annähern wollen. Zugegebenerweise hab ich von drei der fünf beteiligten Crews noch sprichwörtlich nichts gesehen, aber ich hole ja gerne Versäumtes oder solches, was dafür gehalten wird, nach und pflege außerdem die gelinde Hoffnung, genährt durch die Eisele-Beteiligung und die „Moloch“-Kenntnis, dass es sich dabei nicht primär um den üblichen Feld-, Wald- und Wiesensplatterkrams handelt, mit dem uns die deutsche Szene immer noch oft und gern behelligt. Nehmen wir das schlappe halbe Dutzend Filme also mal unter die Lupe…


Inhalt

Ein schöner Tag (zum Amok laufen)

Regie: Raoul Schaupp, 10 min

Nach einem weiteren blutigen Amoklauf haben die Becksteine dieses unseres Landes gesiegt und endlich alle „Killerspiele“ und „Gewaltvideos“ per Verbot aus dem Verkehr gezogen. Nach einer mehrwöchigen Diät mit harmlos-lieben Jump’n’Runs wie „Bussi Bär im Knuffelland“ ist Hardcore-Game-Junkie Steffen reif für die Insel bzw. einen konzentrierten Gewaltfix. Und da „mediale“ Gewalt nicht mehr in Frage kommt, muss es halt „reale“ sein. Beim freundlichen Schwarzhändler an der Ecke wird eine Knarre erstanden und schon kann Steffen seinen ganz persönlichen Ego-Shooter gestalten.

Raoul Schaupps (Fist Productions) erster Projekt-Beitrag befasst sich, wie unschwer zu erkennen, mit dem stets aktuellen Bruhei um angeblich gewaltverherrlichende und amoklaufinspirierende Computerspiele und macht inhaltlich den ein oder anderen guten Punkt. Schaupp ist ersichtlich Anhänger der Katharsis-Theorie, welche vereinfacht ausgedrückt aussagt, dass „mediale Gewalt“ in Form von Videospielen und Horrorvideos dazu dienen, Agressionen abzubauen (und eben nicht, sie zu erzeugen). Ich persönlich neige dieser Theorie weitgehend ebenfalls zu (wobei es sicherlich Konsorten gibt, bei denen sie nicht zutrifft; aber die Krux bei psychologischen Postulaten zu komplexen Themen ist nunmal, dass es keine allgemeingültigen Wahrheiten gibt, nur solche, die bei einem größeren Prozentsatz an Betroffenen zutreffen). Ob nun im Falle eines Komplettverbots von gewalttätigen Medien es tatsächlich eher zu einem Anstieg von Amokläufen kommen würde, ist eine wohl nicht zu klärende Frage, aber der Gedanke hat durchaus einiges für sich – auf jeden Fall dürften wir uns darüber einig sein, dass es gesellschaftlich gesehen sinnvoller ist, nach einem erlesenen Scheißtag lieber „Resident Evil IV“ zu zocken als die Freundin zu verkloppen. Sicherlich simplifiziert „Ein schöner Tag“, was schon allein dem Medium Kurzfilm geschuldet ist, in dem man nun mal keine Zeit zu verplempern hat (man sollte z.B. annehmen, dass der Protagonist auf der Suche nach seinem Gewaltfix auf dem Schwarzmarkt erst mal nach neuen Spielen oder Filmen fahndet, bevor er sich ’ne Bleispritze zulegt), die Aussage kommt aber durchaus rüber (wobei ich mir allerdings die abschwächende Schlusspointe gespart hätte, die dem Film m.E. ein wenig Impact nimmt).

Filmisch bewegt sich „Ein schöner Tag“ auf dem zu erwartenden Niveau eines SEHR unabhängigen deutschen Indie-Films; es ist kein handwerkliches Schlachtefest Marke früher Schnaas, aber halt mit relativ simplen Mitteln gestrickt – lobenswerte Ausnahme ist die für die technischen Möglichkeiten Schaupps ausgesprochen achtbar gewerkelte Egoshooter-Sequenz (wer braucht schon „Doom“?), die mich wirklich beeindruckt hat (die unvermeidlichen Make-up-Effekte zeugen dann aber doch wieder deutlich von ihrer budgetfreien Herkunft).

Schaupp übernimmt auch persönlich die Hauptrolle – großartiges Mienenspiel ist nicht zu erwarten, but we’ve seen worse in bigger films (ich denke da mal wieder an Walz & Co.). Für die Nebenrollen wurde die komplette Familie rekrutiert (also, meine Eltern würden bei sowas nicht mitspielen, tsk…).

Fazit: Inhaltlich „well-intended“, filmisch abgesehen von der überraschend guten Egoshooter-Sequenz auf gutdurchschnittlichem No-Budget-Amateur-Niveau. Geht in Ordnung.

Die Schande des Zwillings

Regie: Raoul Schaupp, 7 min

Ein junger Mann ist zu seiner Freude endlich zum Stich gekommen und würde dies gern freudestrahlend seinem Zwillingsbruder auf die Nase binden. Der ist aber schon bestens informiert, und zwar speziell um die unappetitlichen Begleitumstände des vollzogenen Akts: es handelte sich erstens um Vergewaltigung und zweitens um die eines achtjährigen Mädchens. Nachdem der Kinderschänder die Tat zunächst abstreitet, fällt ihm tatsächlich, was er bislang verdrängt hatte, ein, dass es sich bei der Anschuldigung um die nackte Wahrheit handelt. Sein Wille, sich der Polizei zu stellen und die gerechte Strafe abzusitzen, ist seinem Bruderherz aber deutlich zu wenig…

Hier ist das Thema „Kindesmissbrauch“ und in seinem one-minute-statement (s.u.) macht Schaupp aus seiner Ansicht zum Thema (die sinngemäß lautet, dass Kinderschänder gesetzesmäßig im Verurteilungsfalle zu gut wegkommen) kein Geheimnis. Das Problem des – wie alle Kurzfilme – auf seine Pointe hin konstruierten Streifens ist, dass das Thema irgendwie nicht wirklich eine,mn Fünfminüter (Credit-Sequenzen muss man ja abrechnen) entgegenkommt und der Plot-„Twist“ (SPOILER: Es gibt keinen Zwilling, der ist lediglich die projizierte Ausprägung einer schizophrenen Seite des Kinderschänders) sehr vorhersehbar ist (woher sonst sollte der Bruder die detaillierten Informationen über die Tat haben?). Insgesamt ist die Moral wieder eher simplifizierend, auch wenn ich anerkenne, dass Schaupp entgegen seines Statements zumindest versucht, ein wenig Psychologie ins Spiel zu bringen und seine Pädo-Figur nicht NUR als verdammenswertes Monster zu zeigen.

Filmisch ist „Die Schande des Zwillings“ wieder einfach gehalten – es gibt nur ein „Set“ und der ganze Streifen besteht quasi aus einer einzigen Dialogsequenz. Auch hier – wie bei „Ein schöner Tag“ gibt es allerdings auch Positives zu berichten: die „Erinnerungen“, sekundenbruchteilskurze Standbildsequenzen, sind effektiv eingearbeitet und zeugen davon, dass Schaupp durchaus Talent hat, ihm momentan aber ersichtlich die technischen Möglichkeiten, es über einen kompletten Kurzfilm hinweg auszuspielen, (noch) fehlt. Immerhin – die „Doppelrolle“ ist filmisch anständig gelöst.

Angemerkt sein muss aber, dass Schaupp, dem Darsteller, (verständlicherweise) das schauspielerische Vermögen abgeht, eine komplizierte Figur wie diese, noch dazu im kondensierten Format eines Ultra-Kurzfilms, adäquat zu verkörpern. Es ist, ich bin sicher, ich hab das schon des öfteren erwähnt, ein zentrales Problem des Amateurfilms, dass sich die Macher dort zu viele Hüte aufsetzen – oft genug ist das zweifelsohne aus der Not geboren, weil jungen unabhängigen Filmemachern nun mal nur selten die Option offensteht, sich außerhalb des Bekannten- und Verwandtenkreises nach kapablen Darstellern umzusehen, fehlt und man sich dann im Zweifelsfall gern mal selbst casted. Das kann dem Endprodukt dann schaden. In „Ein schöner Tag“, eine Rolle, die Schaupp sicherlich besser zu Gesicht steht, weil er sich mit dem dortigen Charakter fraglos besser identifizieren kann (wer wollte sich denn auch schon mit einem Kinderschänder identifizieren mögen…), ist er besser.

Fazit: Auch hier gibt’s ein Fleißkärtchen für die gute, wenn auch durch das Statement des Regisseurs relativierte, Absicht und unerwarteten Anflug von Style durch die Erinnerungseinsprengsel, aber es zeigt sich insgesamt, dass das Thema innerhalb eines Fünf-Minuten-Films schlicht nicht aufgearbeitet werden kann.

Moloch

Regie: Michael Valentin, 10 min

Hierzu siehe das ausführliche Review unter Wie gedruckt… / Moloch.

Anarchie
Regie: Andreas Eisele, 10 min

Eine Parkbank am Trimm-Dich-Pfad ist der allmorgendliche Treffpunkt zweier arbeitsscheuer Elite-Loser, aufgrund ihrer jeweiligen exzentrischen Outfits genannt „Bademantel“ und „Partyhut“. Beim gemeinschaftlichen Wegpicheln von „Karlskrone“ aus der Plastikpulle kommt Bademantel ins Philosophieren. Anarchie, resümmiert er, wäre die erstrebenswerte Gesellschafts(un)ordnung, alldieweil da jeder tun und lassen könnte, was ihm gefällt, z.B. mit der attraktiven Joggerin an Ort und Stelle eine Nummer zu schieben. Die Tatsache, dass das Mädel allerdings ernsthafte Anstalten macht, mit einem Mit-Sportreibenden anzubandeln, führt bei Bademantel zu einer Kurzschlussreaktion…

Andreas Eiseles Beitrag nimmt eine Sonderstellung innerhalb des Projekts ein, alldieweil er als einziger Partizipant die Sache von der humorig-satirischen Seite angeht. Den Großteil der Laufzeit bestreitet „Bademantel“ mit seinen obskuren Anarchie-Theorien, während „Partyhut“ den Stichwortgeber und gelegentlichen Widersprecher gibt; wir stellen fest – „Anarchie“ ist in positiver Hinsicht ein „Laberfilm“, der von seinen guten Dialogen (und einem glänzend aufgelegten René Schumann als „Bademantel“, um das mal vorwegzunehmen) lebt. Im Vergleich zu den teilweise eher schwermütigen und bedeutungsschwangeren (mal mehr, mal weniger gelungenen) anderen Beiträgen der DVD ist es sehr angenehm-entspannend, mit „Anarchie“ einen Film vor sich zu haben, der letztlich keine Aussage haben will (wenn wir mal von einem „Anarchie ist was für besoffene Freaks und nicht mal für die“ abesehen wollen), sondern einfach nur unterhalten will – und dann mit der Schlusspointe doch noch mal einen taffen Schlag in die Magengrube austeilt. Ob’s diese letzte halbe Minuten wirklich *gebraucht* hat oder der Film vielleicht sogar effektiver gewesen wäre, wenn die „Handlung“ einfach ausgelaufen wäre (was auch eine schöne Moral von der Geschicht gewesen wäre, nach dem Motto „die größten Maulaufreißer sind die größten Hosenscheißer“), kann man dahingestellt sein lassen. Es passt auch so. Ich merke einfach mal an, dass der Streifen es geschafft hat, mich mehrfach zum schallenden Lachen zu animieren und man ihm, wenn schon sonst nix, zumindest entnehmen kann, warum Plastikflaschenbier doch seine Vorzüge hat. Und überhaupt verdient Andreas Eisele sich ein paar Bonuspunkte in meinem Book of Cool, einen 10-Minuten-Kurzfilm noch frecherweise in vier Kapitel einzuteilen…

Nun könnte ein reines Zwei-Personen-Dialogstück schon mal langweilig anzuschauen sein (ich müsste „Warten auf Godot“ jetzt auch nicht unbedingt in einer werkgetreuen Verfilmung sehen), speziell wenn nur an einer Location gedreht wurde, aber Eisele ist mittlerweile routiniert genug, durch unterschiedliche Kamerapositionen und Schnitt visuell einiges zu bewegen. Gemeinsam mit „Moloch“ ist „Anarchie“ sicherlich der am professionellsten aussehende Film der Compilation (und er bedient sich überdies eines Scores des deutschen Indie-Komponisten-Papsts Michael Donner). Dafür Daumen hoch – das sieht gut aus.

Wäre aber trotzdem verschwendet, wenn die Darsteller Pfeifen wären. Aber wie schon gesagt, da besteht kein Grund zur Veranlassung. René Schumann als „Bademantel“ trifft genau den richtigen Ton für den bekloppten Wirrkopf und lässt, wenn’s gefragt ist, auch schon mal die Overacting-Sau raus. Das macht Spaß. Andreas Eisele selbst als „Partyhut“ stellt einen guten Kontrapart dar, wobei der Löwenanteil des Texts bei Schumann liegt und Eisele nur ab und zu seinen Senf dazu geben muss. Nicht fehlen darf selbstredend Eiseles Muse Ellen Koch (und es gibt schlechtere denkbare Musen im Indie-Bereich, hehe).

Fazit: Während die anderen Projektbeiträge sich allesamt komplett auf die „dunkle“ Seite geschlagen haben, gibt’s bei „Anarchie“ trotz der Schlusspointe zur Abwechslung was zu lachen. Handwerklich professionell gearbeitet und gut gespielt, erreicht „Anarchie“ nicht den künstlerischen Anspruch von „Moloch“, dem sicherlich besten Film auf dieser DVD, macht aber einfach Spaß. Ich hatte nichts anderes erhofft 🙂

Es gab keinen

Regie: Christian Jegl, Matthias Wissmann, 6 min

Ein Jüngling wacht blutbesudelt im Wald auf und hat keine Ahnung, was ihm widerfahren ist. Er torkelt zum nächsten Feldweg, wo ein Auto steht, allerdings mit der nicht serienmäßigen Sonderausstattung zweier massakrierter Leichen. Entsetzt entfernt sich der Knabe hastig vom Tatort, doch der Typ, der mit einer Axt bewaffnet nunmehr aus dem Unterholz tritt, um sein blutiges Werk zu vollenden, kommt uns bekannt vor…

Hmtja. Wie in eingeschränkterer Weise bei „Die Schande des Zwillings“ muss man bei „Es gab keinen“ konstatieren, dass es einfach schwierig ist, in gut fünf Minuten sinnvoll eine in Ermangelung eines besseren Wortes „Geschichte“ zu erzählen. Sinn der Übung ist laut dem Regie-Statement der „Zweikampf“ der guten bzw. bösen Seite eines Menschen und der zwangsläufige (?) Sieg des Bösen. Zu dumm, dass die filmische Umsetzung dieser Idee den Rückschluss nicht zulässt – im Endeffekt bleibt ein wenig Schmodderei mit einem recht hanebüchenen Twist, zu dem sich inhaltlich kaum etwas aussagen lässt; von einer echten „Story“ kann man nicht sprechen. Raoul Schaupp hat sich in „Die Schande des Zwillings“ zumindest bemüht, *etwas* zu erzählen und eine Aussage zu treffen, bei „Es gab keinen“ könnte man fieserweise auch sagen „Es gab keinen Punkt“, den der Film machen wollte oder könnte.

Das Ganze ist also mehr eine handwerkliche Fingerübung, wobei der Streifen in seiner kurzen Laufzeit dem Syndrom des „sinnlos im Wald rumsauen“, wie wir es aus so vielen Amateurstreifen kennen und nicht wirklich schätzen, zu unterfallen droht. Zum Glück sind die fünf Minuten ja schnell vorbei, aber – das muss ich leider sagen – einen echten Incentive, mir das Werk ein zweites Mal zu Gemüte zu führen, fehlt mir. Formal sicherlich etwas ausgereifter als die Schaupp-Filme, aber ohne dessen durchschimmernden visuellen Ideen, ist „Es gab keinen“ der Tiefpunkt der Kompilation (auch wenn Matthias Wissmann in der einzigen nennenswerten Rolle – ansonsten gibt’s ja nur Leichen – für Amateurverhätnisse passabel agiert).

Fazit: Hätte nicht sein müssen. Die angestrebte Aussage versandet, von einer sinnvollen Dramaturgie oder einer memorablen Pointe kann nicht die Rede sein. Schade drum.

353,9 Sekunden

Regie: Christian Jegl, 12 min

353,9 Sekunden braucht man nach empirischer Feldstudie der Filmemacher, eine Zigarette anständig zu rauchen (kommt nach meiner Beobachtung hin). Geraucht wird in diesem Falle von einer jungen Frau am Steuer eines Ford Mondeo, die zu einem abgelegenen Sportplatz fährt. Dort öffnet sie den Kofferraum und zerrt zwei gefesselte und geknebelte Männer ans Tageslicht, drapiert sie an einer Schuppenwand und foltert sie genüsslich, ehe sie zu einer zünftigen Hinrichtung schreitet. Die böse Tat erfolgreich bewältigt, braust sie von hinnen – in der Gewissheit, für ihre Aktion einen verdammt guten Grund gehabt zu haben…

Zum Glück können sich Christian Jegl, hier Solo-Director, und Matthias Wissmann mit „353,9 Sekunden“ (cleverer Titel, der NOCH cleverer gewesen wäre, würde der Film genau so lange dauern), für den Reinfall mit „Es gab keinen“ umgehend rehabilitieren. Das heißt nicht, dass „Moloch“ und „Anarchie“ um ihre herausragenden Positionen innerhalb der Kompilation fürchten müssen, aber zeigt zumindest, dass wir’s nicht mit talentlosen Hacks, sondern ernstzunehmenden Indie-Filmern zu tun haben, die mit ihrem anderen Projektbeitrag halt leider daneben gegriffen haben. Sinn der Übung laut Regie-Statement ist es zu zeigen, wie sich ein Leben innerhalb „einer Zigarettenlänge“ (ursprünglicher Arbeitstitel, ehe die erwähnte streng wissenschaftliche Feldstudie eingriff), also aufgrund eines winzigen Zeitraums, ändern kann. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Absicht letztlich erfolgreich rübergebracht wird (ich zweifele sogar eher daran), aber messen wir den Film mal nicht an seinem selbstauferlegten Anspruch, sondern anhand (soweit mir möglich) objektiver Betrachtung.

Nach einer (für einen Zwölf-Minuten-Film) beinahe endlosen, dialogfreien Autofahrt gibt’s ein paar Minuten vermeintlich sinnloser Gewalt (garniert mit ein paar beabsichtigten Tarantino-Hommagen), mit der vertauschten Opfer-/Täterrolle (im Vergleich zum Genredurchschnitt), ehe erst in der Schlusspointe aufgeklärt wird, WAS wir da gerade gesehen haben. Nichtlineare Erzählweise bzw. hier in diesem Fall das Umdrehen von Ursache und Wirkung ist eine Sache, an der schon größere Geister als Jegl und Wissmann gescheitert sind, dafür schlagen sie sich achtbar. Ein wenig brisant wird’s dadurch, dass man letzten Endes aus dem Film ein Plädoyer für Selbstjustiz sehen kann, aber die Filmemacher selbst sehen das wohl – eingedenk ihres Statements – eher wertfrei; es geht ihnen darum, dass man (bzw. die Protagonistin) aufgrund gewisser Ereignisse gewisse Entscheidungen trifft (und es ist natürlich filmisch interessanter, wie’s hier durchgezogen wird als eine vielleicht gesellschaftskompatiblere, aber eben unspektakuläre und langweiligere Alternative).

Technisch ist „353,9 Sekunden“ wesentlich dynamischer und interessanter anzuschauen als „Es gab keinen“ – in den „Actionszenen“ gibt’s hektische Handkamera, der Plottwist/Schlussakt kommt mit ein paar stylishen Zwischenschnitten, was hübsch mit den betont langsamen, dafür aber mit passender Musik abgestimmten Autofahrpassagen kontrastiert. Bemängeln muss man wie bei „Es gab keinen“ das „Kunstblut“, das mal wieder sehr rosa nach Himbeersirup aussieht. Leider ist entweder das Ausgangsmaterial nicht von bester Qualität oder die Kompression der DVD geht an dieser Stelle mächtig in die Knie, jedenfalls trüben heftige Nachzieher das Sehvergnügen. Ein Sonderlob geht an die extrem professionell gewerkelte Titelsequenz.

Die darstellerischen Leistungen sind okay, wobei von den Herren der Schöpfung nicht viel verlangt wird außer panisch zu kucken. Natalie Garcia als Heldin zieht sich überraschend gut aus der Affäre.

Fazit: Moralisch möglicherweise bedenklich, filmisch deutlich besser als „Es gab keinen“ und mit einer passablen Hauptdarstellerin am Start, erweist sich „353,9 Sekunden“ als gefälliger Indie-Kurzfilm; der Schlusstwist zieht dem Zuschauer vielleicht nicht so sehr den Boden unter den Füßen weg wie erhofft (dafür kommt er nicht gänzlich aus dem Nichts, sondern wird kurz vorbereitet) – was man nach dem anderen Projektbeitrag des Teams vielleicht nicht unbedingt vermutet hätte, macht dieser Film klar – hier schlummert Talent, das an seinen technischen Möglichkeiten und an der Umsetzung seiner Ideen noch ein wenig feilen muss.

DVD-Details
Alle Filme kommen mit umfangreichem Bonusmaterial. Zu jedem Film gibt’s ein „one minute statement“ des jeweiligen Machers, der sich dort kurz über die Intention seines Werks auslässt. Alle Filme verfügen zudem über einen Audiokommentar, zudem gibt’s zu einigen Filmen Teaser, Trailer, Making-ofs, Outtakes und Slideshows („Anarchie“ kommt für alle Ellen-Koch-Fans, und die gibt’s ja, mit einer „erweiterten“ Stretch- und Räkelsequenz, charmant „deleted tits and ass“ betitelt). Als Hidden Feature stellen sich noch Impressionen vom „Splatterday Night Fever“, wo das Projekt offensichtlich vorgestellt wurde, von ca. 20 Minuten Länge ein. Insgesamt eine runde Packung. Die Filme selbst präsentieren sich in akzeptabler Qualität, wobei ab und an beim Dialogton Abstriche gemacht werden müssen, das Filmmaterial an sich nicht High-End-Ansprüchen genügt und die Kompression speziell bei „353,9 Sekunden“ ihre Probleme hat. Lob gibt’s für die gelungene Digipak-Aufmachung und die Menü-Gestaltung. Ach ja, erschienen ist der ganze Frohsinn bei Maximum Uncut Productions.

Auf „Krankheit Mensch“ finden sich letztlich sechs qualitativ höchst unterschiedliche Kurzfilme wieder – künstlerisches Highlight ist ohne Zweifel Valentins beeindruckender „Moloch“, den größten Unterhaltungswert bietet Eiseles ebenfalls sehr sehenswerter „Anarchie“. Bei den vier Filmen der beiden anderen Teams zeigt sich Licht und Schatten – Raoul Schaupp scheitert vielleicht an seinem Anspruch und den mangelnden technischen Möglichkeiten, findet aber bei „Ein schöner Tag“ zumindest die Zeit für eine nette kleine Geschichte, während der „Zwilling“ einfach zu offensichtlich und filmisch zu simpel ist. Das Team Jegl/Wissmann kompensiert den missratenen „Es gab keinen“ einigermaßen durch „353,9 Sekunden“, der auch nicht „flawless“ ist, aber zumindest eine Handlung aufweist und erheblich mehr nach Film aussieht. Insgesamt ist „Krankheit Mensch“, nicht zuletzt auch aufgrund des umfangreichen Bonusmaterials, ein interessantes Package, um sich über die Arbeit der diversen Filmcrews einen Überblick zu verschaffen. Wer für deutsche Independent-Filme ein Herz hat (und nicht ein reiner Schmodderantenfan ist), sollte sich nach der Scheibe umsehen. Nicht alles auf der Disc ist perfekt, aber hey, wer erwartet das bei einem reinen Indie-Projekt?

(c) 2007 Dr. Acula


mm
Subscribe
Benachrichtige mich zu:
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments