Haze

 
  • Deutscher Titel: Haze
  • Original-Titel: Haze
  •  
  • Regie: Shinya Tsukamoto
  • Land: Japan
  • Jahr: 2005
  • Darsteller:

    Shinya Tsukamoto (Mann), Kaori Fujii (Frau)


Vorwort

Ein Mann (Shinya Tsukamoto) wacht mit einer Wunde im Bauch in einem höllischen Labyrinth aus Beton auf, dessen enge Räumlichkeiten seine Bewegungsfreiheit stark einschränken. Dies ohne jede Erinnerung daran, wie er dorthin gekommen ist, oder wer er eigentlich ist. Ist er in die Hände eines Perversen geraten, wird er von einer Sekte einer Hirnwäsche unterzogen, wurde er als Kriegsgefangener dorthin verschleppt?

Verzweifelt versucht er, zu entkommen, doch scheint der Irrgarten kein Ende zu haben und tappt er immer wieder in lebensbedrohliche Fallen. Wenn er einschläft oder das Bewusstsein verliert, wacht er an einem völlig anderen Ort wieder auf, und immer wieder plagen ihn seltsame Visionen. Als er durch das Loch in einer Wand einige Mitgefangene entdeckt, kann er nur noch mit ansehen, wie diese von einer unheimlichen, unsichtbaren Macht abgeschlachtet werden. Schliesslich landet er in einem niedrigen Raum voller Leichenteile und trifft dort eine Frau, welche die gleiche Bauchwunde hat wie er. Sie ist davon überzeugt, in einem angeschlossenen Kanal den Ausweg aus diesem Verliess gefunden zu haben…


Inhalt

Shinya Tsukamoto ist ein kultisch verehrter japanischer Horrorfilmer, seit er sich Ende der 1980er mit „Tetuso: The Iron Man“ einen Namen gemacht hat (Stichwort: Bohrer-Penis; der zweite Teil ist in Deutschland übrigens bis heute beschlagnahmt, dafür hat der Herr Regisseur just dieses Jahr einen englischsprachigen dritten nachgeschoben). „Haze“ nun ist ursprünglich Teil eines Projekts für das Koreaner Filmfestival Jeonju, in dessen Rahmen jedes Jahr drei Filmemacher eingeladen werden, damit die zu einem vorgegebenen Budget sowie Thema und mit der Auflage, mit DV-Kameras zu drehen, jeweils einen Kurzfilm produzieren; 2005 war neben einem Südkoreaner und einem Thailänder eben Tsukamoto dabei. Am Festival lief dann eine 25-Minuten-Version von „Haze“, gedreht wurde allerdings genug Material für eine 49-minütige Langfassung (was man halt so Langfassung nennt), die im Nachhinein veröffentlicht wurde.

Und die, mein lieber Scholli, hat es in sich. Der Doc hat Tsukamoto in seinem Bit zu Nightmare Detective mal als „japanischen Cronenberg“ bezeichnet und liegt damit nicht verkehrt; die Mutationen à la „Tetsuo“ erinnern tatsächlich an das Werk des umtriebigen Kanadiers und auch wenn „Haze“ keine ähnlich effektvollen Anblicke zu bieten hat, so ist dieser Film doch ein Paradebeispiel für körperliche Horrorvorstellungen: Die engen Räume, durch welche die Protagonisten kriechen müssen und welche sie in äusserst unbequeme Körperhaltungen zwingen, sind ein klaustrophobischer Albtraum – was nicht zuletzt durch die nervös-verwackelt geführte Kamera, die stets ganz nah an den Protagonisten ist, vermittelt wird.

Zur Beengung kommt das Element körperlicher Verletzung hinzu: In der wohl eindrücklichsten Szene hat der Protagonist keine Wahl, als mit den Zähnen seitwärts an einem Metallrohr entlang zu schleifen (das Geräusch fährt einem durch Mark und Bein), während er sich an einer mit Stacheldraht umwickelten Stange festhält und auf den Zehenspitzen geht, damit sich nicht Nägel in seine Fusssohlen bohren. Kaum hat er sich aus dieser Situation befreit, fährt ein grosser Hammer aus der Wand auf ihn nieder und treibt ihn in einen engen Schacht, durch den er rückwärts kriechen muss, bis er plötzlich in einen Schacht im Boden stürzt, an dessen Ende ihn lange eiserne Stachel erwarten. Die Abschlachtung der Mitgefangenen bietet schliesslich einige ebenso eklige Anblicke wie der Raum mit den zergorten Leichen; getoppt nur noch von dem Kanal, durch den unsere beiden Hauptfiguren schwimmen (und tauchen) müssen – angesichts der Tatsache, dass hier vor allem Teile von Schaufensterpuppen und rote Farbe zum Einsatz kommen, ist kaum zu glauben, wie real das im fertigen Film wirkt (wobei die erwähnte unruhige Kameraführung einiges verschleiert).

Bewunderung verdient bei alledem der Regisseur selbst, der auch gleich die Hauptrolle übernommen und sich trotz Rückenschmerzen sowie Raumangst den Strapazen des Drehs ausgesetzt hat; entsprechend überzeugend ist er in seiner Rolle dann auch, die körperliche Anstrengung und das Grauen nimmt man ihm jederzeit ab.
Nicht ganz so viel zu leiden hat Kaori Fujii, die bereits bei „Tokyo Fist“ für Tsukamoto vor der Kamera stand (zudem war sie Darstellerin bei den beiden originalen japanischen „Ju-On“-Fernsehfilmen), aber die Dreharbeiten können auch für sie nicht sonderlich angenehm gewesen sein.

Das ausgefeilte Sounddesign (die Geräuschekulisse alleine ist mindestens so beunruhigend wie die visuelle Beklemmung) und der brachiale Score (komponiert von Chu Ishikawa, der seit „Tetsuo: The Iron Man“ regelmässig für Tsukamoto arbeitet) treiben das albtraumhafte Szenario auf die Spitze, so dass es dieser kleine Film gar mit vergleichbaren Streifen wie „Cube“ oder „Saw“ jederzeit aufnehmen kann. Kaum zu glauben, wenn man sich dabei vor Augen führt, unter welchen Bedingungen „Haze“ gedreht wurde – kleines Drehteam, Kulissen aus Sperrholz und Farbe, die in einem einzelnen Raum Platz haben, gerade mal dreizehn Tage Drehzeit… und am Schluss entsteht eine minimalistische Horrorvision, die mit knapp 50 Minuten zwar kurz, aber von umso grösserer Wirkung ist.

In Anbetracht der ganzen Quälerei nimmt sich das Ende des Filmes übrigens überaus versöhnlich aus, doch verweigert sich das Werk einer Auflösung, die dem Zuschauer dabei helfen würde, aus dem Gezeigten wirklich schlau zu werden; Tsukamoto selbst besteht dann auch darauf, der Film müsse intuitiv erfasst werden.

SPOILER VORAUS
Am Schluss stellt sich heraus, dass der Mann und die Frau mit schweren Bauchverletzungen auf dem Boden einer Wohnung liegen; das Labyrinth erscheint damit als eine durch die Verletzungen bedingte Wahnvorstellung, als Nahtodeserfahrung, vielleicht sogar als Höllenvision, durch die sich die Protagonisten zurück in die Realität kämpfen müssen (zumindest der Mann macht wortwörtlich einen Aufstieg von unten nach oben durch). Blutverschmierte Nägel und ein Messer (ein Element, das sich im Labyrinth wiederfindet) liegen herum. Der Mann wählt die Notrufnummer. Ist hier ein Streit eskaliert? War es ein gemeinsamer Selbstmordversuch? Der Mann erinnert sich, nachdem er aufgewacht ist, an ein Gespräch:
Sie: „Verzeih mir. Willst du wirklich?“
Er: „Ja.“
Sie: „Du willst mit mir kommen.“
Er: „Mhm.“
Sie: „Wie kommst du zu dieser Entscheidung?“
Er: „Mach dir darüber keine Gedanken; ich hab einfach nichts mehr zu verlieren.“

Auch wenn sich die beidem im Labyrinth nicht erkennen, so haben sie eine gemeinsame Vergangenheit, die sich in der Form von nebelhaften (man beachte mal den Filmtitel) Erinnerungsfetzen in ihr Bewusstsein drängt. Das „Verzeih mir“ zum Beispiel, an das der Mann sich in verschwommenen Visionen erinnert. Oder das Feuerwerk, von dem er der Frau erzählt und von dem sich herausstellt, dass die beiden es sich einst gemeinsam angeschaut haben. Aber was bedeutet die folgende Erinnerung der Frau: „Ich erinnere mich an etwas. Ich wollte…ich weiss wieder, dass ich irgendwohin gehen wollte. Ein Mann hat mich beobachtet. Der Mann, der mich hierher gebracht hat, hat gesehen, dass ich flüchten wollte. Er hat mich in dieses Loch gesteckt. […] Er wollte mich zwingen, dahin zurückzukehren von wo ich gekommen war.“ Ist der Protagonist dieser Mann? Wohin hat sie gehen wollen? Wohin wollte der Mann sie zurückbringen?

Was auch immer die Hintergründe sind, dem Labyrinth entfliehen können die beiden nur gemeinsam. „Du darfst niemals aufgeben“, sagt sie im Kanal zum Protagonisten (der sich bis dahin wenig hoffnungsvoll gezeigt hat), bevor sie untertaucht. So rätselhaft dieser Film auch ist, seine Botschaft scheint deutlich: Angesichts einer feindseligen Welt ist der auf sich allein Gestellte verloren. Ist „Haze“ ein Plädoyer für menschliche Wärme angesichts der urbanen (durch das Labyrinth aus Beton und Metall versinnbildlichten) Moderne?
SPOILER ENDE

Die DVD:

Ich hab hier die „Intro Edition Asien“ von Rapid Eye Movies und Al!ve im Slim-Digipack vorliegen. Dem Kurzfilm (auf Deutsch oder Japanisch anhörbar, deutsche Untertitel mitgeliefert) werden ein äusserst interessantes und unterhaltsames Making of (ca. 24 Minuten), ein informatives Interview mit Tsukamoto (ca. 20 min) und ein etwas weniger gehaltvolles Interview mit Kaori Fujii (ca. 17 min) zur Seite gestellt. Dazu gibt es den Kinotrailer, eine Rapid-Eye-Movies-Trailershow und ein Booklet. Die Kurzfassung des Films wäre in meinen Augen noch ganz interessant gewesen, aber man kann nicht alles haben. Insgesamt ein lohnenswertes Paket.

Fazit:

„Haze“ ist eine selten minimalistische wie packende Horrorvision, welche die körperliche Tortur der Protagonisten geradezu schmerzlich nachfühlbar werden lässt. Das Ende ist da eine gewaltige Erleichterung, behält sich aber eine Beantwortung der vielen aufgeworfenen Fragen vor, gibt dafür aber Raum für eigene Überlegungen. Ich kann den Film nur wärmstens empfehlen.

5/5
(c) Gregor Schenker


mm
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