Harry meint es gut mit dir

 
  • Deutscher Titel: Harry meint es gut mit dir
  • Original-Titel: Harry, un ami qui vous veut du bien
  • Alternative Titel: Harry, He's Here to Help |
  • Regie: Dominik Moll
  • Land: Frankreich
  • Jahr: 2000
  • Darsteller:

    Laurent Lucas (Michel), Sergi López (Harry Balestrero), Mathilde Seigner (Claire), Sophie Guillemin (Prune), Liliane Rovère (Michels Mutter), Dominique Rozan (Michels Vater), Michel Fau (Eric)


Vorwort

Lehrer Michel fährt mit seiner Frau Claire und den drei Töchtern ins lauschige, jedoch stark renovierungsbedürftige Ferienhäuschen, da begegnet er unterwegs in der Toilette einer Autobahnraststätte seinem alten Schulkollegen Harold „Harry“ Balestrero, der sich sehr viel besser an ihn erinnert als umgekehrt. Dieser, reicher Erbe und Müssiggänger, ist eigentlich mit seiner Freundin Prune (schöner Kosename…) in die Schweiz unterwegs („Ich will ihr das Matterhorn zeigen“), besteht dann aber darauf, Michel und Familie zu deren Häuschen zu begleiten.

Beim abendlichen Beisammensein rezitiert Harry ein Gedicht, das Michel damals in einer Schulzeitung veröffentlicht hat, aus dem Gedächtnis; auch der Abdruck des ersten Kapitels eines Sci-fi-Romans über fliegende Affen mit Propellerköpfen ist ihm noch geläufig. Dass Michel mit dem Schreiben schon längst aufgehört hat, trifft Harry tief, und er ist fest entschlossen, Michel zu helfen, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, damit er sich frei entfalten und seinen Roman beenden kann. Finanzielle Direkthilfe lehnt dieser zwar kategorisch ab, einen Wagen, den Harry der Familie als Ersatz für den kaputten alten kauft, ist aber nicht so leicht zurückzugeben. Und als Harry dann zu der Überzeugung gelangt, dass Michels Eltern diesen stark einschränken, ist für ihn klar: die müssen weg…


Inhalt

Regisseur und Drehbuchautor Dominik Moll ist in Deutschland aufgewachsen, hat sich aber nach einem Filmstudium in New York in Frankreich (seine Mutter ist eh Französin) niedergelassen, wo er dann nach mehreren Kurzfilmen und seinem Langspielfilm-Debüt „Intimé“ (international „Intimacy“, nicht mit dem Erotikdrama von Patrice Chéreau zu verwechseln) mit dem mehrfach preisgekrönten (mehrere Césars, den europäischen Filmpreis für Sergi López, etc.) „Harry, un ami qui vous veut du bien“ seinen zweiten abendfüllenden Streifen ablieferte. (Zuletzt kam sein „Lemming“ in die Kinos, der im Forum sehr gut angekommen ist, sofern ich mich recht erinnere, hähä.)

Seinen Hitchcock muss sich Moll (hm, kennt hier einer die beliebte Schweizer Kinderbuchfigur Papa Moll?) auf seinem Lebensweg gut eingeprägt haben, die Anspielungen sind jedenfalls unverkennbar (man nehme nur Harry, dessen Nachname „Balestrero“ eine Anspielung auf das Protagonisten-Ehepaar in „The Wrong Man“ ist, während der Vorname wohl von, Überraschung, „The Trouble with Harry“ herrührt; und wenn der schliesslich Michel durchs Schlüsselloch beobachtet wie dereinst Norman Bates Marion Crane durch das Loch in der Wand… Kommen Suspense-Szenen wie die mit dem Handy in der Jackentasche eines Toten hinzu) und schliesslich ist der Streifen ein Thriller ganz nach alter Schule, sehr ruhig und unaufgeregt inszeniert. Der Zuschauer wird lange auf die Folter gespannt, indem Harry zwar von Beginn weg nicht ganz sauber erscheint (schon allein das Grinsen! Sein Aufdrängertum sowie seine komische Obsession für Michel wirken dann schon sehr merkwürdig), man aber eine ganze Weile vergeblich darauf wartet, dass etwas passiert. Ist dann endlich der erste Mord geschehen, folgt bald ein zweiter und dann kommt auch schon das grosse Finale – wobei, so gross ist dieses nicht, die abschliessende Konfrontation zwischen Michel und Harry kann man nur als konsequent antiklimatisch bezeichnen. (In Sachen Gewaltdarstellung hält der Film sich übrigens sehr zurück, viel mehr als etwas Kunstblut gibt’s nicht zu sehen.)

Überhaupt, Michel und Harry. Auf der einen Seite ein hart arbeitender Französischlehrer für japanische Touristen, der sich keinen Wagen mit Klimaanlage leisten kann, sich ständig mit seiner Frau streitet und unter quengelnden Gören leidet, nicht zu vergessen die nervigen (und reichen – der Vater ist ein Zahnarzt) Eltern, die ihren 34jährigen Sohn immer noch zu bevormunden versuchen (und z.B. einfach ein neues Badezimmer in das Ferienhäuschen, dessen Kauf sie eh schon mitfinanziert haben, bauen lassen). Auf der anderen Seite ein Berufs-Sohn aus reichem Hause, der keinen Finger rühren muss, mit einem modernen Mercedes durch die Gegend prescht und sich mit einer dümmlichen, aber prallen Blondine vergnügt (und nach jedem Orgasmus ein rohes Ei isst, um viril zu bleiben); mit seinen Eltern muss er sich auch nicht herumschlagen, nachdem diese schon länger tot sind. Harry ist und hat alles, was Michel fehlt, bloss seine Kreativität hat dieser ihm voraus. Durch Harrys Wirken lässt er sich (nach anfänglichem Widerstand) dann auch bereitwillig darauf ein, mit dem Schreiben weiterzumachen, ohne zu ahnen, was der alte Schulkamerad inzwischen alles angestellt hat.
Disharmonien zwischen den beiden bleiben allerdings nicht aus: Harry nervt sich darob, dass Michel sich herumschubsen lässt und nur bedingt dem Idealbild entspricht, dass er sich von ihm gemacht hat, Michel seinerseits zeigt sich konsterniert darüber, dass der ehemalige Schulkamerad sich anscheinend nur für seine Schreiberei interessiert. Als dann Prune, die einen Narren an den Töchtern von Michel und Claire gefressen hat, gegenüber dem streng fortpflanzungsunwilligen Harry Kinderwünsche andeutet, fühlt der sich bedroht, während Claire Harry zunehmend für einen schlechten Einfluss auf ihren Mann hält und ihm befiehlt, Michel fernzubleiben. Nach einem handfesten Streit kommt es zur Katastrophe…

Bei der Konstellation liegt es nahe, den Film allegorisch zu deuten: Harry wird da zu Michels kreativer Seite, die unter den Lasten des Alltags begraben wurde, sich aber zu befreien versucht und alles aus dem Weg räumen will, was ihn einengt – dies durchaus mit einem gewissen Mass an „Unverhältnismässigkeit“ (Kontakt abbrechen oder verlassen reicht da nicht, es muss gleich Totschlag her). Zunächst lässt Harry sich dies gefallen, besinnt sich dann aber eines Besseren, als seine Familie in Gefahr gerät. Spoiler voraus: Er bekämpft Michel und überwindet ihn, unterdrückt ihn aber nicht einfach, sondern findet eine Balance: er bringt Schreiben sowie Familienleben unter einen Hut (dazu passt dann auch, dass er ganz am Schluss Züge Harrys annimmt).

Zu dieser Deutungsebene kommen auffällige Symbole hinzu, vor allem das nagelneue Badezimmer, das so gar nicht zum Rest des Hauses passt und in seinem Pink (genau genommen Fuchsia) zwar ausnehmend hässlich aussieht, aber auch an eine Art Gebärmutter oder an das Innere eines Hirns erinnert, in das sich Michel dann auch zum Schreiben zurückzieht – seine Frau muss währenddessen draussen bleiben. Apropos Pink: auffällig sind auch das Violett der Leichenhalle oder das Grün im Hotelflur vor Harrys und Prunes Zimmer (hab zwar keine Ahnung, was das bedeutet, aber irgendwas muss es ja sein).

Laurent Lucas („Pola X“, Calvaire – Tortur des Wahnsinns, „Lemming“) reagiert als Michel im antiklimatischen Ende etwas gar ungerührt (menschlich nachvollziehbar ist das nicht unbedingt, macht aber insofern Sinn, als dass Michel, wie gesagt, Züge Harrys übernimmt), überzeugt bis dahin aber durchaus als leicht kritisch eingestellter, sich aber nicht wirklich durchsetzen könnender Waschlappen (jedenfalls ist er weitaus erträglicher als in „Calvaire“).

Den psychopatischen Harry hingegen gibt Sergi López („Western“, „Pan’s Labyrinth“). Der ist grandios und schafft es wunderbar, eine enervierende Freundlichkeit rüberzubringen, hinter der das Böse (wenn auch gut Gemeinte) lauert.
Was eigentlich Harrys (psychisches) Problem ist und welche Motive genau ihn antreiben, bleibt übrigens im Dunkeln. Man kann sich zusammenreimen, dass seine Obsession für Michel von dem erwähnten Gedicht herrühren, in dem es um einen killwütigen Typen mit Messer geht – leicht vorstellbar, dass der Psycho sich davon angesprochen fühlt und in Michel einen Seelenverwandten vermutet (das Ende legt nahe, dass er sich da durchaus nicht völlig irrt). Wie genau da jetzt aber die Geschichte von fliegenden Affen hinzupasst… Immerhin sorgt die für eine coole Traumsequenz.

Die weiblichen Hauptrollen spielen Mathilde Seigner und Sophie Guillemin in der Rolle der Claire, bzw. der Prune. Letzte zeigt eine nackte Rückansicht (Sergi López lässt sich übrigens auch nicht lumpen), ansonsten bleibt der Film in Sachen Nudity so zurückhaltend wie in Dingen expliziter Gewalt. Liliane Rovère ist mir als Michels nörgelnde Mutter etwas zu stereotyp, hat zum Glück aber auch nur sehr wenig Screentime.

Die UK-DVD von Artificial Eye kommt nur mit französischem Ton daher, aber es gibt englische Untertitel. In Sachen Extras gibt’s einen Trailer, ein etwas über halbstündiges Making-Of sowie einiges an Texttafeln (darunter ein Interview mit Moll). Das Making-Of sowie das Interview scheinen mir interessant zu sein, dummerweise hatte ich nicht die Möglichkeit, mir das näher anzusehen.

Fazit: „Harry, un ami qui vous veut du bien“ ist ein schön altmodischer, sehr unaufgeregter Thriller mit Anflügen schwarzen Humors. Das antiklimatische Ende wird nicht jedem gefallen, ebenso wenig, dass sich der Film um eine eindeutige Aufklärung aller aufgeworfener Fragen drückt, ich zumindest fühlte mich aber spannend unterhalten.

4/5
(c) 2009 Gregor Schenker


mm
Subscribe
Benachrichtige mich zu:
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments