Harry Brown

 
  • Deutscher Titel: Harry Brown
  • Original-Titel: Harry Brown
  •  
  • Regie: Daniel Barber
  • Land: Großbritannien
  • Jahr: 2010
  • Darsteller:

    Michael Caine (Harry Brown), Emily Mortimer (D.I. Alice Frampton), Charlie Creed-Mills (D.S. Terry Hicock), David Bradley (Leonard Atwell), Iain Glen (S.I. Childs), Sean Harris (Stretch), Ben Drew (Noel Winters), Jack O’Connell (Marky), Jamie Downey (Carl), Lee Oakes (Dean), Liam Cunningham (Sid Rourke)


Vorwort

Harry Brown, verwitweter Rentner, fristet sein trauriges Dasein in einer der heruntergekommensten Sozialsiedlungen Londons; sein einziger Freund (und Schachpartner) Leonard lebt in Angst vor den Jugendgangs, die mehr oder weniger auf offener Straße mit Drogen dealen, Leute verprügeln und generell mittelschwer Angst und Schrecken verbreiten. Lens Plan, sich mit einem alten Bajonett zu bewaffnen, erweist sich als folgenschwerer Rohrkrepierer, denn noch am gleichen Abend, an dem er dem entsetzten Harry ankündigt, sich bei nächster Gelegenheit wehren zu wollen, beißt er in den schmutzigen Staub der Fußgängerunterführung, die der Gang von Noel Winters, Sohn eines stadtbekannten und derzeit knastierenden Gangsters, als informelles Hauptquartier dient. Harry ist am Boden zerstört, die Polizei, obschon in Person der Detectives Frampton und Hicock durchaus darüber im Bilde, wer den alten Greis auf dem Gewissen hat, aufgrund fehlender Zeugen oder sonstiger Beweise machtlos. Als Harry sich eines Abends, nach Lens Beerdigung, fürchterlich betrinkt und im Suff nach Hause wankt, wird er von einem Kleinganoven überfallen; instinktiv tötet Harry – ehemaliger Marine mit langjähriger Nordirlandkrieg-Erfahrung ihn mit dessen eigenem Messer. Das bringt Harry im ernüchterten Zustand auf eine Idee. Wenn die Polizei machtlos ist, muss es ein einzelner, entschlossener und kampferfahrener Mann, auch wenn er die 70 längst hinter sich gelassen hat, ja noch lang nicht sein – und schon sein kleiner Waffen-Einkaufsbummel bei den zuverlässigen Waffen- und Drogenhändlern umme Ecke endet in einem Blutbad…


Inhalt

„Harry Brown“ kann ich getrost unter die FFF-Reviews packen – schließlich strich ich den Streifen erst kurz vor Ultimo von der must-see-Liste, weil mir eine gute Fee ein Rezi-Exemplar ins Haus trug und ich ungern Geld ausgebe, wenn ich etwas auch umsonst haben kann. Nennt mich Freibierg’sicht.
Michael Caine ist „Dirty“ Harry Brown (dass keiner auf den Nicknamen gekommen ist?) – ob der Punk da heute lucky feelt?

Egal – sehen wollte ich den Film auf jeden Fall, kam er doch mit jeder Menge guter Presse über den Kanal. Außerdem spielt Altmeister/Legende Michael Caine die Titelrolle, und jemand, dessen Karriere so teflon-abgehärtet ist, dass noch nicht mal grausamste Flops wie „Der weiße Hai: Die Abrechnung“ auch nur eine kleine Delle in die Reputation kloppen konnten, könnte schon mal in der Lage sein, einen verhältnismäßig kleinen britischen Independent-Film zu etwas besonderem zu machen.

Wir haben’s hier mal wieder mit einem Vertreter dessen, was ich mal salopp „new british urban crime film“ taufen würde, zu tun, und damit sind wir in letzter Zeit ja nicht wirklich schlecht gefahren. Was „Harry Brown“ von den Dead Man Running oder London to Brighton unterscheidet, ist, dass wir mal einen – irgendwo langsam auch fälligen – Perspektivwechsel bekommen. Die meisten dieser neuen britischen Thriller siedeln sich zwanglos im Gangstermillieu an, ihre Protagonisten sind, wenn schon nicht von Haus aus kriminelles Gesindel, dann gerne mal Ex-Ganoven auf dem Weg zur Läuterung, aber die andere Seite, also die Sicht derjenigen, die im Zweifelsfall die unschuldigen Leidtragenden der blutigen Auseinandersetzungen sind, blieb bis dato eher spärlich beleuchtet. Das Script von Gary Young (der auch The Tournament schrieb) packt ein Problem an, mit dem sich so manche Gesellschaft herumschlägt, in Großbritannien aber, nach allem, was man so aus der Presse mitbekommt, noch ’ne ganze andere Qualität hat als in Frankreich oder Deutschland, nämlich gewalttätige, überwiegend motivationslose Jugendkriminalität. Young interessiert sich – was einerseits irgendwo sympathisch ist, weil es vermeidet, dass der Film in oberlehrerhafte Sozialpredigten abschweift, andererseits auch den Blick, den er auf das Millieu wirft, etwas verzerrt – wenig bis gar nicht für die Ursachen, sondern nur für die Konsequenzen.

Nun, wenn man den Film beinahe vollständig aus Harrys Sicht erzählt, ist es nahezu unvermeidlich, die „Täterperspektive“ (was ja so auch nicht stimmt, da Harry ja selbst die Opferrolle ablegt und zum Täter wird) weitgehend auszuklammern. Und so beginnt „Harry Brown“ auch nicht wirklich als Thriller, sondern als triste Sozialstudie des Unterschicht-Englands: heruntergekommene Sozialwohnungen, in denen nur noch die leben, die es sich nicht leisten können, wegzuziehen, die Hoffnungslosen, die Gescheiterten, die von der Gesellschaft Abgeschriebenen – hier existiert wirklich eine der vieldiskutierten Parallelgesellschaften, in der das Recht des Stärkeren gilt, Konflikte nur mit Gewalt ausgetragen werden und die Polizei bestenfalls verlacht, normalerweise aber angegriffen wird. Einzige „Waffenstillstandszone“ ist der Pub, in dem Harry und Len tatsächlich in Ruhe Schach spielen können. Als Len dann getötet wird (was der Film interessanterweise ausspart und die genauen Todesumstände erst via später eingebrachtem Handy-Film aufdröselt), mutiert Harry auch nicht sofort zum waffenstarrenden Rächer der Gekerbten, sondern fällt in eine depressive Phase – erst, als er zufällig in Notwehr den Junkie-Räuber killt, reift in ihm der Plan, seine offensichtlich noch nicht ganz eingerosteten Soldaten-Instinkte und -Reflexe in den Dienst der Selbstjustiz zu stellen – um das mal in einen dramaturgischen Kontext zu setzen: Harry begibt sich nach geschlagenen 53 Minuten (also nach Filmhalbzeit) zum Waffenkauf in die Heimstatt der vertrauenswürdigen Ganoven von Nebenan und beginnt seinen die niederen Triebe (und die Auge-um-Auge-Moral) des Betrachters in aller Form befriedigenden Rachefeldzug.

Mal ein Wort zum Selbstjustiz-/Vigilante-Thema an sich – diese appellieren nun mal von Haus aus an eben diese niederen Instinkte, die uns sagen, das Gleiches mit Gleichem vergolten werden muss (mindestens) und lassen dabei eben unter den Tisch fallen, dass wir uns in den letzten zweitausend Jahren über dieses Prinzip doch deutlich hinausentwickelt haben (lustigerweise sind ja meist die ersten, die Selbstjustizfilme bejubeln, diejenigen, die – und das durchaus nicht ohne Berechtigung – drakonische Strafen, wie sie z.B. die Scharia vorschreibt, als Indiz für die allgemeine Unterlegenheit dieser Rechtssysteme im Vergleich zu den westlichen Werten ansehen). Nun spricht nichts wirklich dagegen, wenn wir mal für zwei Stunden vergessen, dass zivilisiertes Zusammenleben eben auch bedeutet, rechtsstaatliche Prinzipien zu wahren und nicht jeden abzumurksen, der uns schief angekuckt hat, kritisch wird’s dann, wenn solche Filme sich wichtig bzw. gesellschaftlich relevant nehmen und meinen. „Harry Brown“ vermeidet weitgehend eine Kommentar – was Charakteren wie Detectiv Hicock, der sich dahingehend äußert, dass Harry Brown ja der Polizei nur Arbeit abnehme, in den Mund gelegt wird, muss man nicht als „Meinung“ des Films bzw. des Scripts verstehen; diesen Kommentar übernahmen offenkundig mit Fleiß die britischen Medien, die in ihrer üblichen Tabloid-artigen Übertreibung „Harry Brown“ zum „wichtigsten Film des Jahres“ und eben gesellschaftlich bedeutungsvoll erklärten; und da wird’s dann schon brisant, da der Streifen außer „Leute foltern und totschießen“ keine Lösungen anbietet (und anbieten will). Ich spiele ungern den Betroffenheitsjournalisten und Mahner, aber Selbstjustizfilme können eh schon von den „Falschen“ vereinnahmt werden, ohne dass die Medien auch noch unterstützend eingreifen (allerdings zeigt’s deutlich einen Paradigmenwechsel auch in der Berichterstattung. „Ein Mann sieht rot“ wurde seinerzeit in Bausch und Bogen verrissen – obwohl der erste Teil der Bronson-Serie bei weitem nicht so reaktionär war, wie’s gern behauptet wird, sondern sich diese Tendenzen erst in den Sequels so richtig ausbreiteten) – in der intellektuellen Liga eines „Gran Torino“ (der auch vom Verleih als Vergleichswert herangezogen wird) spielt „Harry Brown“ sicherlich nicht.

Damit beenden wir mal die allgemeinere Abschweifung und widmen uns noch einer kleineren Detailkritik – ich finde es schade, dass „Harry Brown“ den Ansatz, konsequent aus der Perspektive seiner Titelfigur zu erzählen, nicht ganz durchhält – zwar blendet der Streifen, wie gesagt, den Mord an Len zunächst aus, verschleißt sich dann aber ein wenig in einer relativ langwierigen und nicht sonderlich gewinnbringenden Montage der Festnahme und der Verhöre der Verdächtigen – auch später gibt’s immer wieder Einschübe aus der Perspektive der Ermittler; das etabliert zwar, dass die Polizei ihre Pappenheimer durchaus kennt, bricht aber eben diesen erzählerischen Fokus (es wäre dramaturgisch aus meiner Sicht besser gewesen, hätte man Harry die Festnahme beobachten und ihn später dann die Übeltäter auf freiem Fuß wieder rumlaufen sehen lassen. Würde inhaltlich nichts verändern, aber eben den Narrative bei Harry behalten. Aber man wollte wohl auch noch ein paar andere Schauspieler in Lohn und Brot bringen…). Nicht ganz so glücklich bin ich auch mit dem Finale, das sich etwas zu sehr Klischees ergibt (auch wenn der Gedanke, dieses Finale parallel zu einer großen Polizeirazzia austragen zu lassen, ganz reizvoll ist), und dem letzten (naja, einzigen, ist ja kein Vexierspiel) Plottwist.

Filmisch bin ich durchaus erfreut, dass der ehemalige Werbefilmer Barber auf den mittlerweile auch schon recht üblichen und abgegriffenen „dreckigen“ Look verzichtet, anstatt der grobkörnigen handheld-Aufnahmen, die wir in den new british urban crime films ja meist (und, zugegeben, auch oft wirkungsvoll) vorgesetzt bekommen, achtet Barber schon auf einen „kinematischen“, polierten Look, der zwar die Verelendung der Trabantenstädte nicht beschönigt, aber auch nicht mit jeder Faser seines Seins „ich-bin-quasi-eine-ganz-realistische-Dokumentation“ schreit; das ist tatsächlich gepflegtes Kino mit durchaus eindrucksvoller Kameraarbeit. Adrenalin pur wird dagegen nicht verbreitet – wie bereits erwähnt ist die Auftaktphase vergleichsweise langwierig (nicht mit „langweilig“ zu verwechseln) und auch im „Revenge“-Teil wird nicht pausenlos gekillt und gefoltert (diese eher behutsame Herangehensweise ist besonderes interessant, wenn man sich an Gary Youngs vorheriges Script „The Tournament“ erinnert…); man kann darüber diskutieren, ob Barber und young Harrys character arc wirklich schlüssig gestalten und ob die paar dramaturgischen Schlenker gen Ende hin wirklich notwendig waren, aber der Streifen hat genug Energie, um sich über die 100 Minuten Laufzeit ohne Ermüdungserscheinungen zu hangeln. Härtetechnisch ist „Harry Brown“ kein Splatterfest (gottseidank), die FSK-16-Freigabe ist angesichts einiger recht knackiger Schießereien (manchmal aber auch offenbar CGI-nachbearbeitet) gerechtfertigt.

Keine Diskussion gibt’s über Michael Caine, der wirklich eine große Performance abliefert und Harry Brown in allen Facetten des Charakters stets glaubwürdig verkörpert. Vielleicht ist er sogar etwas ZU präsent als es für den Film wirklich gut wäre (ich sag dazu weiter unten noch was, wenn ich’s nicht vergesse). Der Mann weiß, was er tut und wird im Alter eher noch besser… Emily Mortimer („Shutter Island“, Transsiberian) hat als Detective Frampton (comes alive?) auch einige starke Szenen, Mordopfer David Bradley („Harry Potter“) überzeugt in seinen knappen Szenen ebenfalls. Bei den Jungspunden ragen Ben Drew (alias Plan B und unter diesem Pseudonym erfolgreicher Rapper) als wirklich verachtenswerter Noel und Jack O’Connell (Eden Lake, „This is England“) heraus. In einer kleinen, aber wichtigen Rolle gibt sich auch mein Favorit Liam Cunningham („The Tournament“) die Ehre.

Bildqualität: Die Blu-Ray von Ascot Elite UK überzeugt mit einem perfekten anamorphen 2.35:1-Transfer, bei dem das Ansehen auf einem großen Flatscreen richtig Freude macht – Kontrast, Schärfe, Farben, das stimmt alles.

Tonqualität: Deutscher und englischer Ton werden in DTS 5.1 geboten. Angesichts der heftigen Dialekte hab ich mich für einen „halb-und-halb“-Ansatz entschieden und sowohl die Synchro (gut ausgefallen) als auch den O-Ton mit Untertiteln zu Gemüte geführt. Gibt keinen Grund zur Klage, auch wenn „Harry Brown“ natürlich kein durchgehendes Soundeffektgewitter bietet. Wenn’s laut werden soll, wird’s aber laut und bleibt trotzdem klar und differenziert.

Extras: Neben einigen deleted scenes, unkommentierten behind-the-scenes-Aufnahmen und dem Trailer erfreuen uns ausführliche Videointerviews mit allen wesentlichen Beteiligten, die natürlich allesamt auf der Promo-Seite liegen, aber doch auch einigen Informationswert besitzen. So ist z.B. recht kurios, dass besonders die „älteren“ Darsteller (also Caine, Cunningham und Mortimer) den Streifen für wirklich gesellschaftlich wichtig und quasi-dokumentarisch halten, während die jüngeren Akteure (also Drew und O’Connell) den Film eher als unterhaltsamen Actionthriller „mit realistischen Elementen“, aber auch „übertrieben“ und sichtlich nicht wirklich für *relevant* sehen. Das ist wohl ganz einfach eine Generationenfrage…

Fazit: „Harry Brown“ muss man als Reviewer anscheinend toll finden, jedenfalls hab ich noch wenige eher gedämpft-euphorische Rezensionen gelesen; muss ich das im Zweifelsfall halt mal wieder anfangen. „Harry Brown“ ist ein guter Film – er hat eine nicht neue, aber überwiegend gut umgesetzte, kompakte Idee, ist sehr kompetent gefilmt und ziert sich mt einem ganzen Rudel guter bis hervorragender schauspielerischer Leistungen, aber heiligsprechen muss man die ganze Sache dann auch wieder nicht; dafür drückt sich der Film dann doch zu sehr um eine klare „Message“ und überlässt den Zuschauer genau der Gefahr, die Emily Mortimer in ihrem Videointerview gewittert hat: es ist cool, Michael Caine beim Leute umbringen zuzusehen (das ist es, was ich ein paar Absätze weiter oben ansprach – es ist friggin‘ Michael CAINE! Awesome!). Und ich glaube, da hatten Young, Barber und auch der Cast wohl doch etwas höher gesteckte Ambitionen.

3/5


mm
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