Gullivers tolle Reisen

 
  • Deutscher Titel: Gullivers tolle Reisen
  • Original-Titel: Gulliver's Travels
  • Alternative Titel: Gullivers Reisen |
  • Regie: Peter Hunt
  • Land: Großbritannien/Belgien
  • Jahr: 1977
  • Darsteller:

    Richard Harris (Lemuel Gulliver), Catherine Schell (Mary), Norman Shelly (Gullivers Vater), Meredith Edwards (Onkel Jack), Michael Bates, Julian Glover, Vladek Sheybal, David Prowse, Rod Taylor (Stimmen)


Vorwort

England 1699 – sehr zum Ärger seines Vaters entscheidet sich der junge Arzt Lemuel Gulliver, als Schiffsarzt an Bord der „Antilope“ anzuheuern anstelle eine lukrative Praxis in London zu übernehmen. Seine Braut Mary ist damit einverstanden, aber ’ne gute Idee ist’s trotzdem noch lange nicht. Die „Antilope“ sinkt in einem Sturm, nur Gulliver kann sich auf eine Insel retten – wo er sich umgehend als Gefangener des Reiches Liliput, bevölkert (ach) von winzigen Menschen, wiederfindet.
Die Vertreter von Armee und Marine in der Liliputschen Regierung wären stark dafür, Gulliver ob seiner potentiellen Gefährlichkeit prophylaktisch umzubringen, der Herrscher folgt jedoch dem Ratschlag seines Chefdiplomaten, der Gulliver als möglichen Verbündeten sieht. Und den können die Liliputs gut brauchen, befinden sie sich doch seit Jahren im Kriegszustand mit der Nachbarinsel Blefuscu. Der Konflikt um die brisante Frage, auf welcher Seite man gefälligst sein Frühstücksei aufzuklopfen hat, hat schon elftausend Leben gefordert. Gulliver weigert sich, Blefuscu anzugreifen, aber die angriffsbereite Flotte der Nachbarn auszuschalten, ist für ihn kein Problem.

Gulliver ist der Held des Tages, doch – nachdem er über das politische System Liliputs gestaunt hat, das Posten auf kuriose Weise besetzt, so darf z.B. derjenige, der am längsten auf einem Seil balancieren kann, Außenminister werden – der Versuch des Herrschers, Gulliver dem König von Blefuscu als Abschreckugnswaffe zu präsentieren, misslingt aufgrund der ausgesuchten Freundlichkeit des Riesen der Blefuscu-Delegation gegenüber. General und Admiral wittern Verrat und nun gelingt es ihnen, den Herrscher – an dessen Sturz sie längst feilen – dazu zu überreden, Gulliver auszuschalten. Doch im Diplomaten hat Gulliver einen zuverlässigen Freund…


Inhalt

Also ehrlich jetzt, „Gullivers Reisen“? Was bespricht der Doc als nächstes: „Bussi Bär im Märchenland“? Ich kann Eure Gedanken lesen…

Es ist ja richtig, „Gullivers Reisen“ versteht man heutzutage als juvenilen Bildungsbürgerkram, gleich „Die Schatzinsel“ und „Robinson Crusoe“ als „anständigen“ Stoff für Heranwachsende, die sich nicht an Pokemon und Yu-Gi-Oh das Hirn verderben sollen. Woran sich nur noch wenige erinnern – Jonathan Swifts Roman war vor knapp 300 Jahren alles andere als Kinderkram, sondern eine bissige (und, wenn man die weithin in Vergessenheit geratene dritte bis fünfte Reise berücksichtigt, zu guter Letzt reichlich pessimistische und misanthropische) Satire auf die politischen Verhältnisse des Europas im beginnenden 18. Jahrhundert (und nebenher auch noch eine Parodie auf und „Abrechnung“ mit Daniel Defoes optimistischem „Robinson“).

Als sich dann das Medium Film für die Geschichte zu interessieren begann, war abzusehen, dass die politischen und gesellschaftskritischen Aspekte der Satire zugunsten der plakativen Abenteuer- und Fantasyelemente über Bord geworfen werden würden – so geschah’s dann auch in praktisch allen bisherigen Adaptionen (als „definitive“ Version gilt vielen noch die Fleischer-Zeichentrickversion von 1939, andere würden die mit Harryhausen-Tricktechnik ausstaffierte 1960er-Realfilmversion „Herr der drei Welten“ nominieren, und hoffentlich niemand die 2011er-3D-Idiotie mit Jack Black).
Ein Kuriosum im (angesichts der Bekanntheit der Vorlage doch relativ überschaubaren) Pantheon der Gulliver-Verfilmungen stellt die britisch-belgische Variante von 1977 dar, die unter der Regie des ehemaligen Bond-Directors Peter Hunt („Im Geheimdienst ihrer Majestät“) Real- und Trickfilm kombiniert. Bis auf eine kurze Prologszene (und den Schlussgag) ist Richard Harris der einzig leibhaftige Schauspieler im Film, der sich mit Zeichentrickfiguren herumschlagen muss. Sicherlich war „Gulliver’s Travels“ nicht der erste Versuch einer solchen Kombination (Disney probierte das immer wieder mal mit mäßigem Erfolg, u.a. zeitgleich mit „Elliot, das Schmunzelmonster“, der allerdings nur 22 Minuten gezeichnetes Material beinhaltete), aber es dürfte – ohne, dass ich das jetzt genauer recherchiert hätte, bin ja schließlich nach wie vor Euer fauler Doc – zumindest einer der ersten sein, der Real- und Trickaufnahmen praktisch über die komplette Laufzeit verbindet (und quasi als zusätzliche Strafaufgabe, weil Richard Harris ja auch mal durch etwas Physisches laufen möchte, das dann auch noch mit Miniatur-Kulissen aufpeppt).

Die Drehbuchadaption übernahm Don Black, seines Zeichens im richtigen Leben Songtexter, der sich hier zum ersten und einzigen Mal an ein Screenplay wagte. Zu seinen Glanztaten als Texter gehören die Lyrics für nicht weniger als vier Bond-Titelsongs („Thunderball“, „Diamonds are Forever“, „The Man With the Golden Gun“, „The World is Not Enough“, dazu geht noch der Text zum „Die Another Day“-Closing-Title-Song „Surrender“ auf sein Kerbholz), der Michael-Jackson-Gassenhauer „Ben“ aus dem Soundtrack des Rattenhorrors „Willard“ sowie die für einige Andrew-Lloyd-Webber-Musicalsongs. Nun wird mir jeder, der sich schon mal an einem Songtext versucht hat, zustimmen, dass das ’n kleines bissl was anderes ist als das Schreiben eines Drehbuchs, aber wenigstens hat Black ja die klassische literarische Vorlage.

Bei einer knappen Laufzeit von 77 Minuten (und der schon im Vorspann angedrohten und der Vita des Autors nicht gänzlich unerwarteten Songeinlagen) ist relativ klar, dass „Gulliver’s Travels“ sich die Rosinen aus dem Roman picken wird – es reicht „nur“ für die Liliput-Episode, schon der Ausflug nach Brobdingnag (das Land der Riesen) fehlt (wobei bemerkenswert ist, dass der Film ein offenes Ende wagt… Gulliver entkommt von Liliput, wird aber von einem brobdingnagschen Riesen aus dem Meer gefischt); es ist natürlich die am griffigsten zu verfilmende Episode (in den nachfolgenden weiteren Reisen wird Swift schon sehr spezifisch philosophisch) und auch die visuell reizvollste, speziell im Kontext eines kombinierten Real-/Trickfilms.
Obschon Black sich an ein kindliches Publikum widmet(auf den Gedanken, dass Zeichentrick nicht automatisch Kinderkram sein muss, war bis dato allenfalls Ralph Bakshi gekommen) und vieles simplifiziert, gehen die satirischen Elemente überraschenderweise nicht völlig unter – dem liliputanischen Weg der Politiker-Auswahl widmet Black sogar eine ganze Songeinlage. Man kann der Ansicht sein, dass Black hier herbe Demokratiekritik übt (zumal die Episode ohne den Kontext des Romans, nachdem schlichtweg alle politischen Systeme fehlerbehaftet sind, auskommen muss), aber die aufgeworfenen Probleme existieren, wie wir ja aus eigener Erfahrung wissen, ja tatsächlich (von unerfüllbaren Wahlversprechen bis blanker Lüge als Stimmenfang), und durch die Verpackung als lustige Gesangseinlage mit entsprechenden Animationen wird die Satire deutlich abgemildert.
Was Black relativ gut macht, ist die Klarstellung, dass Gulliver, unabhängig davon, ob nun der Herrscher gerade sein Freund ist oder nicht, *prinzipiell* auf der falschen Insel gelandet ist (als er sich nach Blefuscu flüchtet, wird ihm dort unvoreingenommen, trotz seiner Flottenklauaktion und strikter Weigerung, nunmehr gegen Liliput in den Krieg zu ziehen, geholfen), was das Gut-/Böse-Schema für einen (letztendlichen) Kinderfilm schon ordentlich auf den Kopf stellt. Aus der Romanvorlage übernimmt Black auch den nichtigen Anlass für den Krieg (die Eier-Aufschlag-Frage), die man durchaus als Anspielung auf religiös motivierte Kriege (die letztlich wie die hier ausschlaggebende Thematik auf reine Glaubensfragen hinauslaufen) verstehen kann (allerdings war Swift kein Kirchenfeind, sondern – wie sich auch noch im weiteren Verlauf des „Gullivers“ ergibt – entschiedener Gegner der Vorstellung, man könne an einen „Schöpfer“ ohne organisierte Religion glauben).

Freilich bleiben die Abenteueraspekte im Vordergrund, wobei… naja… so wahnsinnig viel Abenteuer bietet die Verfilmung nun auch wieder nicht. Black und Hunt setzen hauptsächlich auf den Oooh- und Aaah-Effekt des gar nicht mal so schlechten eye candy. Die „großen“ set pieces beziehen ihren Reiz weniger aus dem Storytelling denn aus der durchaus kompetent gewerkelten Mixtur von Miniaturmodellen a la „Godzilla“, Zeichentrick und dem – entgegen seines Rufs – durchaus entspannt darin umherstapfenden Richard Harris. Das Tempo ist mäßig; die Musicaleinlagen halten den Betrieb natürlich auf, auch wenn sie gerne mal Montagen (wie z.B. die Fesselung Gullivers, die für die Liliputaner schon ein ziemlich großes Bauprojekt darstellt) beschallen. Potentiell emotionale Momente (wie wenn Gulliver die schöne Rosanna zu ihrem Verlobten, der in den Krieg ziehen muss, bringt) erzielen kaum Wirkung, weil der Streifen als Kinderfilm halt nicht zu tief in die Charaktere und ihre Entwicklung einsteigen kann (und wir in dem Fall die Figuren noch nicht mal kennen. Rosannas Verlobter bekommt nicht mal einen Namen).

Black gestattet seiner Version immerhin einen wrap-up der Story am Hofe Liliputs und lässt das Mordkomplott gegen den Herrscher aufdecken (und bietet damit Hoffnung auf eine bessere, weniger kriegerische Zukunft), die aber auch nötig ist, weil der Gulliver-Handlungsstrang auf Blefuscu recht undramatisch ausplätschert. Ein Schwachpunkt sind die nicht gerade tiefschürfenden Dialoge (und auch Blacks Songtexte hauen den geneigten Zuhörer auch nicht ob ihrer enormen Komplexität und Inspiration halber vom Hocker), wobei hier wieder sicher zu berücksichtigen ist, dass der Film sich nun mal primär an junge Zuschauer und nicht verbitterte alte Zyniker wie yours truly richtet (andererseits macht das Script aus seinem Herzen keine Mördergrube und geht sehr offensiv mit Mord, Totschlag, Hinrichtungen und ähnlichem lebensbejahendem Gedankengut um).

Technisch ist die Chose okay – der reine Realfilmauftakt ist durchaus stimmungsvoll, die Schiffskatastrophe abzüglich einiger etwas zu offensichtlicher Modelltricks adäquat gestaltet. Das Design Liliputs orientiert sich grundsätzlich an arabischer Architektur (was mir fast etwas fantasielos erscheint). Die Miniatur-Sets sind liebevoll und poppig bunt gestaltet und sind wirklich hübsch anzuschauen (als Faustregel gilt übrigens, dass, wann immer Richard Harris im Bild ist, Hintergrund und Kulissen real sind und die Trickfiguren aufkopiert werden, ohne Harris gibt’s zumeist reinen Zeichentrick). Das Charakter-Design der gezeichneten Figuren ist relativ langweilig und grob (der Herrscher ist ein gemütlich-fetter Sultan, der General ein böse grinsender Schrank in Rüstung, der Admiral eine fiese Verbrechervisage mit Holzbein), die Animation hält keinen Vergleich mit Disney auf, ist aber durchaus auf einem Level mit den Rankin-Bass-Werken vergleichbaren Jahrgangs. Die Interaktion von animierten und realen Figuren (d.i. Harris) haut anno 2011 natürlich niemanden mehr vom Stengel (manchmal fehlt einfach das Physische – wenn eine Figur auf Richard Harris herumsteigt, sieht das eben nicht anders aus als aufkopiert), ist aber im Großen und Ganzen akzeptabel. Die visuellen Highlights sind ohne Zweifel aber die Sequenzen, in denen Harris weitgehend unbeeindruckt von etwaigen Trickkameraden durch die schönen Kulissen stiefelt.
Fotografiert wurde die Sache übrigens von Alan Hume, der neben etlichen „Carry on“-Heulern und den fantastischen Abenteuerfilmen von Kevin Conner auch mehrfach bei James Bond die Kamera schwang („In tödlicher Mission“, „Im Angesicht des Todes“, „Octopussy“), „Lifeforce“ ins Bild setzte und, nicht zuletzt, von George Lucas für „Rückkehr der Jedi-Ritter“ engagiert wurde. Kompetenter Mann, also.

Die Musik von des dreifachen Oscar-Preisträgers Michel Legrand (ausgezeichent für „The Thomas Crown Affair“, „Summer of ’42“ und „Yentl“, dazu kommen noch fünf Nominierungen) geht sicherlich nicht in die Geschichte der ergreifenden Filmscores ein, ist aber praktikabel, die Songs haben keinen gesteigerten Erinnerungswert, das mehrfach (mit angepasstem Text) angespielte Gulliver-Titelthema ist ganz catchy, und Richard Harris‘ Solonummer erinnert den Musikästheten daran, dass der Mann, den sie Pferd nannten, ja tatsächlich auch mal einen Welthit mit „MacArthur Park“ hatte, ohne singen zu können.

Womit wir dann nahtlos bei der Schauspielerei wären – da gibt’s ja mangels großem Cast nicht viel zu erzählen. Richard Harris ist sicherlich ein paar Lenze zu alt für die Rolle des jungen, aufstrebenden Doktor Gulliver, lässt sich aber davon nicht weiter beeindrucken und geht ebenso gut gelaunt durch die Zuckerbäckerkulissen wie er mit seinen nicht realen „Kollegen“ parliert. Harris, der ja doch eher ein Typ für die hartärschigen Griesgrame war, wäre nicht unbedingt die Nummer 1 auf meiner Liste für Leute, die Gulliver spielen sollten, nichtsdestotrotz ist’s eine ziemlich charmante Vorstellung des Meisters.
In der kleinen Prolog-Rolle der Gulliver-Braut Mary gibt sich Catherine Schell („Mondbasis Alpha 1“) die Ehre.
An prominenten Sprechern verbuchen wir Mr. Zeitmaschine Rod Taylor (der sowohl Gullivers Verbündeten Reldresal als auch den König von Blefuscu spricht), „Darth Vader“ David Prowse (den man aber nun mal nicht an seiner Stimme erkennen kann, newa), Vladek Sheybal (The Apple, „Die Rote Flut“), Michael Bates („Frenzy“, „Uhrwerk Orange“, „Patton“) und Julian Glover („In tödlicher Mission“, „Das Imperium schlägt zurück“, und akut in „Game of Thrones“ zu sehen).

Bildqualität: Nach der mir vorliegenden DVD-Fassung braucht Ihr nicht zu fahnden – ich hab hier einen britischen Zeitungsbeileger aus dem „Sunday Independent“ (von Arorw Films), den ich für 20 Cent in einem Second-Hand-Laden in Kilkenny erstanden habe). Die bringt den Film in passablem 4:3-Vollbild, die Farben kommen gut zur Geltung, die Schärfe ist ordentlich. Wenn das Master auch der justament erschienenen deutschen DVD-Veröffentlichung von Movie Power zugrundeliegt, gibt’s nicht viel zu meckern.

Tonqualität: Ich habe hier nur englischen Stereoton auf meiner Scheibe, der aber gut verständlich ist und recht kurios ist, alldieweil er den „orientalisch“ gestalteten Liliputanern durchaus mal irische und schottische Akzente andichtet.

Extras: Nüsch.

Fazit: Mit „ein Kuriosum“ hab ich’s eigentlich ganz oben schon ziemlich treffend zusammengefasst. Es ist schon ein Unikum von Film, getragen von einer ordentlichen Leistung eines mal gegen sein Image spielenden Richard Harris, dem’s zwar etwas an Plot und Tempo fehlt – und natürlich die literarische Vorlage knallhart verkürzt -, aber zumindest Swifts originaler Intention nicht völlig zuwiderläuft. Klar, Swift schrieb kein Kinderbuch und die Singerei hätte den Satiriker sicher auch nicht begeistert, aber das zumindest ein paar seiner kritischen Betrachtungen in einen Trickfilm gerettet wurden, das wäre ihm sicher ein anerkennendes Lächeln wert gewesen. Insofern – kein Weitwurf und der Freund klassischen Abenteuer-/Fantasykintopps ist schon allein der Harryhausen-Effekte wegen mit der „Herr der drei Welten“-Variante besser bedient, aber ein schlechter Film ist diese Version deswegen noch lange nicht. Passable Unterhaltung, in die vielleicht Tim-Burton-Fans mal reinschmecken sollten.

3/5
(c) 2011 Dr. Acula


mm
Subscribe
Benachrichtige mich zu:
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments