Going to Brazil

 
  • Deutscher Titel: Going to Brazil
  • Original-Titel: Going to Brazil
  •  
  • Regie: Patrick Mille
  • Land: Frankreich
  • Jahr: 2016
  • Darsteller:

    Vanessa Guide (Katia), Alison Wheeler (Agathe), Margot Bancilhon (Chloe), Philippine Stindel (Lily), Patrick Mille (M. Herve), Chico Diaz (Augusto sr.), Joseph Malerba (Laurent)


Vorwort

Die Freundinnen Chloe, Agathe und Agathes kleine Schwester Lily haben schon bessere Zeiten gesehen. Chloe ist mal wieder von einem Freund sitzen gelassen worden, Agathe weiß vermutlich schon gar nicht mehr, wie ein männliches Geschlechtsorgan überhaupt aussieht und Lily hat sich, seit ihr Vater abgehauen ist, einen gepflegten Hang zu Jähzorn und farbigen Metaphern entwickelt, der sie und Agathe mehr als einmal in peinliche Situationen gebracht hat.

Die Freude über die Hochzeitseinladung ihrer seit längerem abgängigen Freundin Katia hält sich daher in Grenzen – wie kommt die Schlampe dazu, das große Los mit einem reichen brasilianischen Fleischbaron-Erben gezogen zu haben und eine fette Feier in Rio schmeißen zu dürfen? Aber das Terzett entscheidet sich, die Einladung wahrzunehmen – und steht wenig später bestellt, aber nicht abgeholt, am Terminal in Rio. Braut und Bräutigam sind nämlich von ihren jeweiligen Freunden auf ihre jeweiligen Junggesellinnen-Feten abberufen worden, und die drei jungen Französinnen müssen sehen, wo sie bleiben. Immerhin hat die hochschwangere Katia ein Hotelzimmer für sie gebucht und auch Tipps für die Abendgestaltung – einen exklusiven Privatklub, gleich neben den Favelas.

Der Club ist dann auch Örtlichkeit für ein dekadentes Upper-Class-Bacchanal vom Feinsten – hier wird gepoppt, gekokst, gesoffen, bis der Papst lacht. Chloe lässt sich auch gleich vom erstbesten brasilianischen Beachboy flachlegen. Der versucht’s, weil auf Rekordjagd, was Ausländerbimbos ficken angeht, dann auch gleich bei Lily. Die verbittet sich Zudringlichkeiten und kann zudem Karate. Schlecht für unseren Brasiliano, der eher unabsichtlich, aber halt doch über’s Balkongeländer purzelt. Und leider war die Fete nicht im Erdgeschoss…

Ob der schönen Bescherung beschließen unsere Heldinnen unauffällige Entfernung vom Tatort. Zwar würden die Girls am liebsten sofort die Koffer packen und zurück nach Vivelafrance reisen, bevor der Unglücksfall noch jemandem auffällt, aber nicht mit Katia. Der kann man natürlich schlecht die Wahrheit sagen und erfindet schnell die Mär vom abgebrannten Appartment daheim und Katia ist auch verständnisvoll, zumal auch anderweitig abgelenkt. Ihr lieber Bräutigam ist nämlich fahnenflüchtig. Des Rätsels zwangsläufige Lösung: wen Lily da in purer Notwehr vom Balkon geschubst hat, war niemand anderes als Augusto jr., Katias Ausgekuckter. Das ist jetzt peinlich. Zumal Agathe und Co. sich jetzt auch schon allein aus Pietätsgründen nicht vor der Trauerfeier verpissen können. Augusto sr. überrascht die Trauergäste: dank einer Sondergenehmigung vom Präsidenten persönlich darf die Trauung posthum vollzogen werden. Der alte Augusto ist aber nicht primär am zukünftigen Wohl von Katia interessiert – aufgelöst, wie die Britwe ist, hat sie den Ehevertrag blind unterzeichnet, und der garantiert Augusto sr. nach sieben Jahren unwiderruflich das Sorgerecht für den gerade heranreifenden Stammhalter, und bis dahin hat Katia gefälligst in Brasilien angewurzelt zu bleiben.

Selbst Katia, nicht gerade Ehrenvorsitzende der französischen MENSA-Abteilung, realisiert, dass dieses Arrangement für sie ausgesprochen unvorteilhaft ist – erst recht, weil Augusto sr. bereits ihren Reisepass konfisziert hat. Also packt sie ihre hypernervösen Freundinnen ein und pilgert zum Franzmanns-Konsulat. Herve, der zuständige Beamte, ist wider Erwarten helpful und stellt Katia einen Not-Ausweis ein, doch scheitert der Fluchtversuch an einer sturen No-Hochschwangere-an-Bord-Policy der Fluggesellschaft. Herve hat einen alternativen Plan – Frankreich hat ja zufälligerweise Territorium in Südamerika. Französisch-Guyana ist zwar tausende Kilometer weg, aber es wär doch ein hübscher Roadtrip, oder? Die vier Grazien machen sich in einem von einer Favela-Gang gesponsorten (und bis unter die Halskrause mit Drogen gefüllten) Jeep auf den Weg, und es eilt auch, denn mittlerweile hat Augusto sr. rausgefunden, auf welcher Party sein Sohnemann war, wer da auch war und wer dem Tunichtgut den letzten Schubs gegeben hat…


Inhalt

Meine Güte, soviel wollte ich gar nicht zum Inhalt schreiben, aber „Going to Brazil“ ist eine dieser liebenswerten „everything goes wrong“-Chaos-Komödien, die so viele Plottwists und -turns nimmt, alles noch mal auf den Kopf stellt und durchmischt, und auf jeden Fall dafür sorgt, dass jede Entwicklung für die Protagonisten die schlimmstmögliche Konsequenz hat, d.h. es gibt jede Menge Plot für’s Geld.

Ich war ja eigentlich der Ansicht, dass die französische Komödie ihre beste Zeit lange hinter sich hat (seit Francois Veber, Jean Girault, Claude Zidi etc. nicht mehr drehen und die großen französischen Komödianten wie de Funes, Pierre Richard oder Jean Rochefort tot oder in Rente sind). Versuche, die gute alte Tradition wieder aufleben zu lassen, scheitern nicht unbedingt an fehlenden Darstellern (dass Jean Reno einen verdammt großen funny bone hat, der nur selten genutzt hat, ist mehr oder weniger Allgemeinbildung), sondern mauen Drehbüchern und/oder desinteressierten Regisseuren (so z.B. erlebt beim Reno/Depardieu-Vehikel „Ruby & Quentin“, das trotz guter Voraussetzungen auf halbem Weg zum lustigen Film strandete).

Und dann kommt auf einmal aus dem Nichts ein Bursche namens Patrick Mille, bislang eher als Schauspieler aufgefallen (und mir noch gar nicht) und haut uns mit „Going to Brazil“ eine herzhafte Thriller-Komödie vor den Latz, die sich gewaschen hat.

Von der ersten Sekunde legt der Streifen ein Höllentempo vor – und das, ohne die eigentlich erwarteten Schlenker in Action-Trash zu nehmen (indeed beinhaltet „Going to Brazil“ überraschend wenig an echter „Action“). Mille macht das ungefähr so, wie ich meine Versuche, Fiktionales zu schreiben, gestalte – er kuckt sich ein paar Figuren aus, schmeißt sie in eine groteske Situation und schaut zu, was passiert, und meistens ist die Antwort eben „Murphy’s law“ – was immer schief gehen kann oder unseren Heldinnen zum Nachteil gereichen kann, passiert. Dabei keilt Mille ohne Rücksicht auf Verluste gegen seine Landsleute (bornierte Arroganzlinge, die in ihrem Konsulat jeden Abend wüste Travestiepartys mit angeschlossenen Orgien feiern) wie gegen die Brasilianer (ausländerfeindlich, praktisch ausnahmslos Arschlöcher, korrupt und nur auf den eigenen Vorteil bedacht) aus, und macht so unsere Heroinen, die, machen wir uns nichts vor, keine Engel sind und oft genug depperte, aber dabei durchaus glaubwürdige Entscheidungen treffen, zu anfeuerbaren Figuren, denen man in einer Welt voller menschlicher Mistkäfer ohne weiteres die Daumen drückt.

Wie gekonnt Mille die Geschichte von einer „shit happens“-Situation in ein überdrehtes Spektakel, das mit Amazonen-Privatarmeen noch nicht mal seinen Höhepunkt findet, eskaliert, kann man kaum in Worte fassen – das muss man idealerweise im Kinosessel erlebt haben.

Es fliegen die Gags – Situationskomik und Dialogwitz rulen, die Trefferquote ist phänomenal, selbst abgegriffene Ideen wie das hochschwangere Bimbo-Girl, das zur Kampfmaschine wird, wirken unter Milles Regie frisch und unverb(r)aucht. Natürlich hilft’s enorm, dass die vier Hauptdarstellerinnen so perfekt gecastet sind, dass man wirklich glauben könnte, sie *wären* ihre Figuren. Durchgeknallt, nicht immer intelligent, grundverschieden und dann doch mit einer so guten Chemie, dass man ohne weiteres versteht, wie diese Mädels trotz ihrer Unterschiede und ihrer teilweise herzlichen Abneigung gegeneinander, wirkliche Freundinnen sind, die füreinander notfalls auch durch die Hölle gehen würden.

Es sind dann auch frische Gesichter, mit denen Mille seinen Film ausstattet – Vanessa Guide (Katia) ist gerade dabei, sich von Bit-Parts über Fernsehrollen zu größeren Aufgaben hochzuarbeiten, die hinreißende Alison Wheeler (Agathe) hat bislang praktisch exklusiv in Kurzfilmen gespielt, auch Margot Bancilhon (Chloe, „Five“) ist bislang kaum in international bedeutsamer Ware auffällig geworden und für Philippine Stindel (Lily) ist es gar erst die zweite Filmrolle überhaupt. Das bringt in die Interaktionen der vier einen ganzen Eimer Natürlichkeit, den ein Rudel alter Häsinnen wahrscheinlich nie so hinbekommen hätte.

Die Herren der Schöpfung, allesamt Deppen oder Arschgeigen unterschiedlicher Ausprägung, werden durch den Regisseur selbst als Konsular-Idiot Herve, den renommierten brasilianischen Mimen Chico Diaz (großartig als der fiese ale Augusto) und Joseph Malerba („Braquo“) als dessen Chief-Henchman ebenfalls spaßig vertreten.

Das knabbert da und dort mal an den Grenzen des guten Geschmacks, macht aber ungeheuer viel Spaß und sollte auch einen verdammt hohen rewatchability-Faktor mitbringen. Wer ein Herz für die durchgeknallten Action-Comedies der 80er hat und für den „es geht immer schlimmer“-Ansatz ein Herz hat, der findet hier womöglich einen seiner neuesten Lieblingsfilme…

4/5
(c) 2017 Dr. Acula


mm
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