Geständnisse

 
  • Deutscher Titel: Geständnisse
  • Original-Titel: Kokuhaku
  • Alternative Titel: Confessions |
  • Regie: Tetsuya Nakashima
  • Land: Japan
  • Jahr: 2010
  • Darsteller:

    Takako Matsu (Yuko Moriguchi), Yoshino Kimura (Yuko Shimomura), Masaki Okada (Yoshiteru „Werther“ Terada), Yukito Nishii (Shuya Watanabe), Kaoru Fujiwara (Naoki Shimomura), Ai Hashimoto (Mizuki Kitahara)


Vorwort

Die letzte Stunde mit ihrer Klassenlehrerin Yuko Moriguchi vor den Ferien bringt für die 7. Klasse einer japanischen Mittelstunde eine große Überraschung. Frau Moriguchi hat in der Vergangenheit nicht gerade Beliebtheitswettbewerbe gewonnen, was auch durchaus in ihrem Sinne ist, folgt sie doch den pädagogischen Prinzipien des allgemein bekannten und gefeierten Lehrers/Schriftstellers Seguchi, die darauf abzielen, dass Lehrer nicht die Kumpel ihrer Schüler sein sollen, vielmehr Distanz wahren und sich nicht in die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schutzbefohlenen einmischen sollen. Während ihrer Ansprache veranstaltet die Klasse das übliche Chaos, beginnt aber aufmerksamer zu werden, als Yuko mitteilt, dass Seguchi ihr vormaliger Verlobter und Vater ihrer Tochter war bzw. ist. Die angedachte Heirat wurde aufgehoben, als sich herausstellte, dass Seguchi sich eine HIV-Infektion zugezogen hat, dies aber glücklicherweise wenigstens nicht an Yuko oder Tochter Manami weitergegeben hat. Womit wir der Sache langsam (sehr langsam) näher kommen – als alleinerziehende Mutter hat Yuko Manami einmal in der Woche nach dem Kindergarten in die Schule mitgebracht, und eines weniger schönen Tages wurde das vierjährige Mädchen dann tot im Schwimmbecken der Schule treibend gefunden. Tragischer Unglücksfall, möchte man meinen, aber Yuko lässt die Katze aus dem Sack – Manami wurde ermordet, und zwar von zwei Schülern dieser Klasse!

Die Lehrerin nennt keine Namen, aber das ist auch nicht nötig – aus den Details ergibt sich zwangsläufig, dass der Elektronikbastler Shuyo und der Klassenoutsider Naoki die Täter sein müssen. Das hat Yuko durch persönliche Gespräche mit den Jungkriminellen, die für ihre Taten ihres Alters wegen nicht juristisch belangt werden können, herausgefunden. Shuyo glaubt, sie mit einem seiner speziellen Elektrogeräte per Stromschlag umgebracht zu haben, Naoki habe dann aus Feigheit – ganz entgegen Shuyos Plan zum Popularitätsgewinn durch Mord + Totschlag – die Sache als Unfall arrangiert und die Leiche in den Pool geworfen. Das zumindest die Story, die ihr die Jungs aufgetischt haben, allerdings weiß Yuko ein entscheidendes Detail mehr – als Naoki Manami ins Wasser warf, war sie noch am Leben!

Da die Justiz bei den angebrachten Rachegedanken nicht helfen kann, hat Yuko die Sache in die eigenen Hände genommen und die Schulmilch der Übeltäter mit Seguchis HIV-infiziertem Blut versetzt. Wohl bekomm’s!

Nach den Ferien hat die Klasse einen neuen Lehrer – einen kumpelhaften Jungdynamiker, der sich in Fack-ju-Göthe-Manier Werther nennt und everybody’s Freund sein will. Zur allgemeinen Überraschung seiner Mitschüler sitzt Shuyo im Unterricht, als wäre nichts geschehen, wohingehen Naoki sich in eine freundliche Psychose zurückgezogen hat, sein Zimmer kaum mehr verlässt und einen Schrubbfimmel entwickelt hat, der sich leider nicht auf die persönliche Hygiene ausdehnt, vielmehr verweigert er jede Form von körperlicher Reinigung, und bringt seine Mutter verständlicherweise zur Verzweiflung. Werthers wöchentliche Besuche mit Klassensprecherin Mizuki im Schlepptau tragen auch nicht zur weiteren Stabilisierung des fragilen Geisteszustands des Jungmörders bei.

Dagegen ist Shuyo geradezu ein Musterschüler mit brillanten Noten – aber auch Opfer zunehmend brutaler Mobbingattacken seiner Mitschüler, in die bald auch Mizuki hineingezogen wird, die zunächst versucht, Shuyo objektiv zu begegnen, sich aber bald zu ihm hingezogen fühlt. Mizuki kommt Shuyo tatsächlich näher und er schüttet ihr sein Herz aus – eigentlich liegt ihm nur etwas an der Aufmerksamkeit seiner Mutter, die sich hat von seinem Vater scheiden lassen. Nachdem sein erster Preis in einem Jugend-Wissenschaftswettbewerb von der Bluttat einer 13-jährigen Familienmörderin zu einer Fußnote in der Berichterstattung relegiert wurde, waren halt andere Mittel und Wege notwendig, um die mütterliche Zuneigung zurückzugewinnen.


Inhalt

Das hört sich alles, wie Ihr sicher bemerkt habt, nicht gerade nach einem feel-good-Movie an, und, naja, wenn ich Euch verrate, dass „Confessions“ sozusagen der spirituelle Vorgänger von „The World of Kanako“ ist und ebenfalls dem offensichtlich ziemlich misanthropen Hirn von Tetsuya Nakashima entspringt, wird das vermutlich niemanden mehr überraschen.

Wir wissen alle, dass Japan – auch und gerade in filmischer Hinsicht – ein Land der Extreme ist. Auf jeden Genius wie Kurasawa kommen mindestens zehn unterbelichtete Schwachmaten, die Schlonz wie „Zombie-Geisha ws. Lolita Schoolgirl“ runterkurbeln, auf jeden Visionär wie Shinya Tsukamoto ein Randale-Garagenfilmer wie Takashi Miike, auf jeden Gewaltästheten wie Takeshi Kitano ein „Guinea-Pig“-Macher. Ich hab dafür, gesellschaftlich-historisch gesehen, durchaus verständnis. Eine Nation, die nach Jahrhunderten selbstgewählter Isolation im Raketentempo in die Moderne geschossen wurde und zur Begrüßung im Club der Weltmächte zwei Atombomben auf den Kopf geworfen bekam, muss eigentlich zwangsläufig eine gewisse gesamtgesellschaftliche Schizophrenie entwickeln. Eine über tausend Jahre hinweg praktisch unveränderte Kultur der mittelalterlichen Ständegesellschaft, die von null auf 100 ins Industriezeitalter katapultiert wurde, dabei bedingungslos an die eigene Überlegenheit glaubte, dann erst mal planiert wurde und sich als High-Tech-Kapitalisten neu erfand, muss wohl psychologisch dazu neigen, die maximale Effizienz und Produktivität, die das Alltagsleben des durchschnittlichen japanischen Arbeitnehmers ausmacht, im minimalen Privatleben in Extreme und Exzesse auszuschlagen. Hence Hentai-Tentakelporn, eine ungesunde Fixierung auf Teen- oder gar virtuelle Idole, und Hemmungslosigkeit im Splatterfilmbereich. Die Schattenseiten einer solchen Gesellschaft sind nicht schwer auszumachen – wer mit dem Turbotempo nicht mithalten kann oder will, dem bleibt nicht mehr viel als die Reklusion oder im Extremfall der Suizid. Und diese Kollateralschäden der totalen Leistungsdruckgesellschaft sind die Figuren, für die sich Tetsuya Nakashima interessiert, schon beginnend mit seinem 1997er Schülerdrama „Prüfungen eines Sommers“, in dem das weitere Leben eines jungen Schülers davon abzuhängen scheint, ob er und vier andere unsportliche Klassenkameraden eine einfache Turnübung meistern.

Nakashima ist auch kein Freund des geradlinigen, zugänglichen Storytellings – das wissen wir ja aus „Kanako“, in dem er über zwei (im positiven Sinn) deprimierenden Stunden das geheimnisvolle Doppelleben der Titelfigur aufdeckt. Auch in „Confessions“ zäumt Nakashima das Pferd nicht auf die naheliegende Weise auf. Wenn wir in den Film einsteigen, ist die alles auslösende Tat bereits längst passiert, die Kausalkette, die zur finalen Katastrophe (KANN der Film anders als mit einer Katastrophe enden?) führen wird, bereits in Gang gesetzt – an keiner Stelle gibt es mehr die ernstliche Möglichkeit für eine der Figuren, aus dem Drama auszusteigen, wie in einer Rube-Goldberg-Maschinen-Konstruktion bleibt nur, auf das Ineinandergreifen der Mechanismen hin zum unvermeidlichen Resultat zu warten.

Wie in „Kanako“ dröselt Nakashima die Geschichte in zahlreichen Flashbacks aus unterschiedlichen Perspektiven auf – wie der Titel bereits andeutet, geht es hier nicht um ein Geständnis, sondern eine ganze Vielzahl. Jeder der Protagonisten hat seine Geschichte zu erzählen, die ein weiteres Stückchen Wahrheit ans Licht bringt, wobei, und das ist die Krux oder auch der Clou der Geschichte, es letztlich nicht um die Aufklärung der Wahrheit geht (die genauen Umstände von Manamis Tod sind spätestens, na, so zur Filmmitte klar), sondern um die Motivationen und Verarbeitungsmethoden der verschiedenen Protagonisten. Wir erfahren, dass Shuya z.B. völlig wurscht war, wer umgebracht wird, das Opfer also von Naoki ausgesucht wurde, weil der sich mal von Yuko mies behandelt fühlte (was aber wiederum auch keine böse Absicht war, sondern Folge einer gesetzlichen Regelung), Naoki aber seinerseits wieder bemerken musste, dass Shuya ihn nicht als gleichberechtigten Mittäter, sondern nur nützlichen Idioten betrachtete usw. Ich will hier hatürlich nicht alle Drehungen und Wendungen des durchaus komplexen Scripts, das aufmerksames Ansehen belohnt (wer sich während Filmbetrachtung gerne mal seinem Handy widmet – eine Unart, die meines Erachtens durchaus ein Argument pro Todesstrafe ist –, der ist vermutlich spätetestens nach 20 Minuten rettungslos verloren), aufdröseln. „Confessions“ belohnt den „Aufwand“, sich auf seine Erzählweise und auch seine eigentümliche Bildsprache einzulassen. Es sei einfach mal in den Raum gestellt, dass kaum eine Figur in „Confessions“ das ist, was sie zunächst einmal ganz offensichtlich zu sein scheint und eine echte Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern schwierig wird.

Nakashima bedient sich eines visuellen Stils, der es zugegeben nicht einfach macht, sich in die Geschichte hineinzuversetzen – vielleicht oder sogar vermutlich ist das pure Absicht, um eine Distanz zwischen Zuschauer und Filmprotagonisten aufzubauen; Nakashima will nicht, dass wir uns mit den Figuren identifizieren, er will, dass wir komplett in der Rolle des machtlosen Beobachters gefangen sind, wie die Charaktere selbst machtlose Schachfiguren sind, die sich in Kontrolle der Ereignisse glauben, dabei doch aber nur durch eine scheinbar omnipotente Mechanik des Schreckens manipuliert werden. Die Farben des Films sind trist, grau, freudlos – von der zweckmäßig-funktionalen Betonbunkerschule, den gleichmacherischen Schuluniformen, dem trüben Wetter, der bedrückenden Urbanität der Umgebung. Charaktere reden aneinander vorbei, übereinander hinweg – what we have here is failure to communicate, sozusagen (wobei Nakashima sympathischerweise keine billigen Lösungen anbietet – sowohl Yukos Weg der Wahrung einer respektvollen Distanz zwischen Schüler und Lehrer als auch Werthers aufdringliche Kumpelhaftigkeit sind ersichtlich falsch, aber Nakashima zeigt bewusst keinen „dritten Weg“ auf), man mobbt sich (was nicht erst mit der Enthüllung Yukos beginnt – zuvor hatten die Bullys halt andere Opfer und Shuya ist nun ein bequemer neuer Sündenbock) – eine graue Gesellschaft in grauen Farben. Während „Kanako“ sein nihilistisches Weltbild auch in einen rauen, schmerzhaften Look tauchte, ist „Confessions“ glattpoliert, stylisch, ästhetisch, aber auch unterkühlt, abweisend und einem Faible für symmetrische oder andere formale Anordnungen (wie den beigefügten Filmfotos unschwer zu entnehmen ist).

Die optischen „Sperenzchen“ aus stilisierten Bildkompositionen oder Superzeitlupen, die Momente weniger unterstreichen als vielmehr qualvoll hinauszögern, bilden einen reizvollen Kontrast zur farblichen Tristesse. Es braucht ein wenig Zeit, bis man sich in diese Bildsprache hineingefunden, ihren eigenen Rhythmus (der durchaus vorhanden ist) erkannt hat, kurz, das Feeling zu finden, um „Confessions“ angemessen würdigen zu können.

Dabei sollte man sich auch nicht von den Screenshots der deutschen Blu-Ray-Auflage verwirren lassen, die „Confessions“ in einen Splatterfilm verwandeln möchte. Und wenn „Confessions“ eins mit totaler, absoluter, vollständiger Sicherheit NICHT ist, ist es ein Splatterfilm. Drei blutige(re) Szenen sind zu vermelden, und ohne sie würde der Film exakt gleich gut funktionieren (diese Gewaltspitzen sind nicht dazu da, um irgendwelche Gorehounds zu befriedigen, sondern als zusätzliche Tiefschläge zu dienen); die FSK-16-Freigabe ist absolut in Ordnung. Der geschmackvoll zusammengestellte Soundtrack wird von Radiohead und The Xx angeführt.

Die schauspielerischen Leistungen sind nicht einfach zu bewerten, wenn das ausgegebene Kommando ersichtlich „seid distanziert, haltet euch mit Gesten und Mimik zurück, spielt so, als wärt ihr allein in der Szene“ zu sein scheint. Es ergibt ein eigenwilliges Spiel, das manchmal mehr nach Regietheater wirkt denn nach Film, aber, auch hier gilt, nach einer Eingewöhnungsphase von 15-20 Minuten entwickelt das Gesamtkonstrukt der fragmentierten Erzählung, der unterkühlten und gleichzeitig stilisierten Inszenierung und dem distanzierten Spiel der Darsteller eine enorme Faszination. Die Darstellerriege wird angeführt von Takako Matsu („The Hidden Blade“, „K-20: Die Legende der Schwarzen Maske“), Yoshino Kimura („Sukiyaki Western Django“) und Masaki Okada („Die vielen Gesichter des Ito“), flankiert von den Jungschauspielern Yukito Nishii („Lesson of the Evil“), Kaoru Fujiwara („Lesson of the Evil“) und Ai Hashimoto („Parasyte“). Teen-Idol Ayaka Miyoshi steuert einen Cameo as herself bei.

Auch wenn „Confessions“ ebenfalls ein düsteres, misanthropes Bild der japanischen Gesellschaft zeichnet (hier auf den Mikrokosmos Mittelschule bezogen), ist er doch „zugänglicher“ als „The World of Kanako“ – wenn ich einen Vergleich treffen möchte, wo „Kanako“ der „murder-suicide“ des japanischen Dramas ist, ist „Confessions“ „nur“ ein Film zum Pulsadernaufschneiden, aber ein auf seine Weise bildschöner, berührender und spannender. Bevorzugt aber nicht während eines Depressionsschubs zu kucken…

© 2018 Dr. Acula


BOMBEN-Skala: 1

BIER-Skala: 6


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