Fall 39

 
  • Deutscher Titel: Fall 39
  • Original-Titel: Case 39
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  • Regie: Christian Alvart
  • Land: USA
  • Jahr: 2009
  • Darsteller:

    Renée Zellweger (Emily Jenkins), Jodelle Ferland (Lilith Sullivan), Ian McShane (Det. Mike Baron), Kerry O’Malley (Margaret Sullivan), Callum Keith Rennie (Edward Sullivan), Bradley Cooper (Douglas J. Ames), Crystal Lowe (Julie), Adrian Lester (Wayne), Georgia Craig (Denise), Cynthia Stevenson (Nancy)


Vorwort

Emily Jenkins, Sozialarbeiterin, kann sich eigentlich nicht über mangelnde Arbeit beklagen – 38 Fälle hat sie schon zu bearbeiten, da klatscht ihr Chef Wayne ihr Nr. 39 hin. Die Sullivan-Familie hat Probleme mit ihrer Tochter Lilith, deren Schulnoten in den Keller rasen. Zu ihrer Überraschung sind die Sullivans beim Ortstermin extrem abweisend. Probleme gibt’s keine, versichert Mutter Margaret und Vater Edward, dessen Feindseligkeit offenkundig ist, macht ausgesprochen deutlich, dass Emily ausgesprochen unerwünscht ist. Aber die süße zehnjährige Lilith IST völlig verunsichert und ängstlich, das ist Emily klar. Nur hat sie ohne greifbare Aussagen und/oder Beweise keine Handhabe, Lilith aus ihrer Familie zu entfernen. Bei einem zweiten Gespräch im Büro wispert Lilith Emiliy zu, dass sie gehört hat, ihre Eltern wollten sie „zur Hölle“ schicken. Vor Zeugen allerdings weigert sich Lilith, die Anschuldigung zu wiederholen und so kann weiterhin nichts unternommen werden. Emily kann Lilith nur für Notfälle ihre Privatnummer zustecken. Die wird auch schnell gebraucht – auf Liliths Notruf eilt Emily mit einem Freund, dem Cop Mike, zu den Sullivans und kann mit Mühe und Not verhindern, dass die Eltern ihre Tochter im Backofen verbrennen… Die Sullivans wandern in die Klapse, Lilith in ein Kinderheim. Auf Bitten und Drängeln des Kindes bemüht sich Emily um das vorläufige Sorgerecht und erhält es zu ihrer eigenen Überraschung. Lilith zieht bei Emily ein, aber von nun geschehen seltsame Dinge. Ein zehnjähriger Latino-Junge, ein anderer von Emilys Fällen, bringt seine Eltern brutal um – zuvor erhielt er einen Anruf aus Emilys Haus! Emilys Boyfriend, der Psychologe Doug, der Lilith betreut, stirbt unter rätselhaften Umständen, Emily entdeckt, dass die Sullivans sich in ihrem Haus vor ihrer Tochter verbarrikadiert hatten. Ist der kleine Unschuldsengel tatsächlich, wie die Eltern es steif und fest behaupten, ein Dämon?


Inhalt

Beim FFF gibt’s tradtionell auch den Tag, an dem ich ü-ber-haupt keine Lust habe, meinen Kadaver ins Kino zu schleppen, weil ich eh nur einen oder zwei Filme auf dem Programm habe, langsam unter Ermüdungserscheinungen leide und mich sowieso grundsätzlich frage, warum ich überhaupt eine Karte für einen bestimmten Film erworben habe. „Case 39“, meine diesjährige Dosis an Major-Mainstream-Star-Horror, tat auch ehrlich gesagt nicht viel dafür, mich zu motivieren. Böse Kinder oder solche, die dafür gehalten werden, sind aufgrund meiner genetisch bedingten Abneigung gegen Kinderdarsteller (die ja dann notwendigerweise in solchen Filmen irgendwo auch rumlaufen müssen), eh nicht so mein Fall, und nachdem ich den Trailer dreimal gesehen hatte (zweimal im FFF-Vorprogramm, einmal auf der Trailer-DVD, die’s zur Opening Night gab) und ich nach jeder Ansicht überzeugter war, dass ich diesen Film gewiss nicht sehen muss, war ich wirklich *so* kurz davor, die 8 Euro verfallen zu lassen und mir statt dessen einen erholsamen Abend auf der Couch zu gönnen. Alas, Chronistenpflicht, man *hat* die Karte ja gekauft, außerdem gestern mit ein paar Leuten geschwatzt und dabei durchblicken lassen, heute wiederzukommen usw. usf. Also ab in die U-Bahn, zum Kino gefahren, mit den bekannten Gesichtern darüber gescherzt, dass man die zwei Stunden vergeudete Lebenszeit wahrscheinlich bald bereuen wird…

… und nach dem Film Abbitte leisten müssen. „Case 39“ ist nämlich verdammt gut. Und das, obwohl er von Teutonen-Export Christian Alvart stammt, dessen „Antikörper“ zwar für einen deutschen Genre-Film spektakuläre Kritiken einheimste, bei Genrefans aber eher, naja, kontrovers aufgenommen wurde. Gut, Alvart konnte sich hier aufs Regieführen beschränken, erdacht wurde „Case 39“ von Ray Wright (obschon dessen Vita auch nicht gerade viel verspricht: er schrieb das US-Remake des J-Horrors „Pulse“ und werkelt derzeit an einem ebenso unnötigen Remake von „The Crazies“) und dem ging es weniger um christliche Allegorien als um einen zwar im Kern nicht sonderlich originellen, aber straffen und spannenden Gruselthriller für ein breites Publikum.

Die Stärke des Scripts ist seine Effektivität – obwohl streng genommen kaum wirklich neue Ideen auftauchen, verquickt Wright Motive von „Omen“ bis zum „Exorzisten“ selig, sozusagen die Ehrengalerie des „Kinder“-Horrors, mit dem ein oder anderen vagen J-Horror-Einfluss zu einem stimmigen und, ich wiederhole mich, spannenden Ganzen, ohne dabei zu sehr in den Klischeetopf greifen zu müssen, „Case 39“ wirkt – trotz der bekannten Vorbilder – frisch und unverbraucht, weil Film und Script nicht nur im „großen“ Plot überzeugen, sondern auch in kleinen Details viel Aufmerksamkeit und morbiden Witz beweisen (SPOILER wenn z.B. an Emilys Cubicle-Wand, nachdem sie gerade eine übernatürliche Erscheinung hatte, kurz ein Aufkleber mit dem Text „Imaginations run wild“ zu sehen, oder, in einer anderen Szene, auf einer Streichholzschachtel, deren Inhalt dazu dienen soll, Lilith den Garaus zu machen, der Spruch „keep away from children“ lesbar ist). Für seinen zentralen Charakter bedient sich Wright einer zwar verhältnismäßig einfachen, aber auch glaubhaften Psychologie (Emily hatte selbst eine versoffene Rabenmutter, die eine Autofahrt im stockvollen Zustand nicht überlebt hat; der Umstand, selbst „ungeliebt“ gewesen zu sein, hat sie in die Sozialschiene getrieben und macht sie für Lilith zum perfekten Manipulations-Opfer) – auf der „Antagonistenseite“ bezieht „Case 39“ seine Spannung nicht aus der Frage, ob Lilith nun „böse“ ist oder nicht (dahingehend lässt Wright die Katze schon zu Beginn des zweiten Akts aus dem Sack), sondern hauptsächlich aus der schlichten Konfrontation Emily/Lilith (und eher nebensächlich aus der „Ersatzfrage“, ob Lilith *an sich* Evil Inc. ist oder „nur“ eine böse Wesenheit von ihr Besitz ergriffen hat), dem Abgleiten Emilys in zunehmende Paranoia, je mehr sie über Lilith herausfindet oder herauszufinden glaubt, und dem geschickt eingesetzten Schachzug, dass sowohl Liliths „Background“ als auch der Umfang ihrer paranormalen Kräfte undefiniert bleiben (in der Tat scheint ihre Macht wenig Grenzen zu haben, von Suggestion über Teleportation bis hin zur Erschaffung falscher Realitäten und Transformation in andere Form hat Lilith ein erstaunliches Repertoire zur Verfügung); wir müssen ihr also wohl oder übel nahezu jede Schandtat zutrauen und das tut der Atmosphäre des dritten Akts sehr gut – Emilys Angst, ihre Paranoia (die auch dadurch verstärkt wird, dass ihr letzter verbliebener Vertrauter, der Polizist Mike, sie langsam, aber um so sicherer für ebenso bekloppt wie Liliths leibliche Eltern hält) werden greif- und fühlbar (auch, um vorzugreifen, aufgrund der schauspielerischen Leistungen). Einzig das ultimative Finale ist eine kleine Enttäuschung (dass sich ein derart mächtiges Wesen nicht aus einer verhältnismäßig unspektakulären Bredouille helfen kann… naja, aber vielleicht spekuliert man ja auf „Case 40″…). Dafür überzeugen auch die Charakterisierungen der wenigen wichtigen Nebenfiguren (Doug und Mike) und die guten Dialoge.

Im Gegensatz zum Trend des Mainstream-Horrorkinos setzt Alvart in der Inszenierung weniger auf jump scares, sondern auf lang ausgespielte intensive Schreckensszenen, will also weniger den simplen „huch, ich hab mich erschrocken“-Instinkt ansprechen, sondern wirklich auf tieferer Ebene „packen“. Schon die erste große „Terrorszene“ (als Liliths Eltern versuchen, sie zu braten) ist ein Musterbeispiel, wie man eine durch ihren Inhalt eh schon schockierende Szene (es geht, verdammt noch mal, um Eltern, die ihr KIND töten wollen, und das nicht gerade auf kurz- und schmerzlose Weise) mit maximaler Wirkung geradezu quälend ausdehnt; später wiederholt Alvart das Kunststück bei Dougs Tod (auf eine Weise, die man SO sicher auch noch nicht gesehen hat) und einigen Attacken Liliths auf Emily – dabei muss Alvart nicht auf plakative Effekte setzen (obschon „Case 39“ – zu meiner Überraschung – in den USA ein „R“ kassierte, kommt der Film mit zwei blutigeren Szenen aus), sondern regelt viel über die Kameraarbeit von Hagen Bogdanski (der auch „Antikörper“ und den Oscar-Gewinner „Das Leben der Anderen“ fotografierte) und den Schnitt von Altmeister Mark Goldblatt („Terminator“, Regie beim Dolph-„Punisher“). Interessanterweise geht dem Film aber auch in den Charakterszenen nie die Puste aus, im Gegenteil, einige der Dialogpassagen sind die packendsten Stellen des Films (z.B. eine längerer Dialog von Doug und Lilith, kurz bevor der Psychologe den Abschied einreicht), was wiederum an den exzellenten Schauspielern liegt, aber die muss man ja auch erst mal führen können; Alvart scheint also auch in der Hinsicht ein gutes Händchen zu haben. Die Lauflänge von 109 Minuten ist gut gewählt – lang genug, um aus den Figuren echte Charaktere werden zu lassen und quasi jeden Akt mit einem Höhepunkt beenden zu können, ohne zu hudeln, kurz genug, um die Story nicht über das willkommene Maß hinaus aufblähen zu müssen. „Case 39“ kommt ohne störende Nebenkriegsschauplätze, romantische Subplots oder sonstige nicht zielführende Ablenkungen aus, nimmt mit zunehmender Zeit immer mehr Fahrt auf und steuert schließlich mit großer Konsequenz auf das (wie gesagt, leider *etwas* enttäuschende) Finale hin. Die Filmmusik von Michl Britsch (den Alvart auch von „Antikörper“ mitgenommen hat) kann nicht ganz dem üblichen TADADA-TAAAA-Getöse für jede halbwegs „spannende“ Szene entkommen, ist aber doch noch subtiler als das meiste, was Hollywood-Komponisten heutzutage von der Tonspur donnern lassen.

FX werden dosiert eingesetzt – neben den zwei etwas härteren Szenen gönnt sich Alvart den Auftritt einiger von Lilith herbeiprojizierter „Zombies“ und brauchbar hingewerkelte digitale Hornissen (die einfallsreich und wirkungsvoll eingesetzt werden, yuck).

EXTREMSPOILER Eine einzige Entscheidung des Films, die auch mit den FX zu tun hat, halte ich für grundfalsch. Bei zwei Gelegenheiten hält es Alvart für richtig, Lilith in ihrer dämonischen Form zu zeigen – nur jeweils kurz für einige wenige Sekunden und nicht ausführlich genug, um das Design wirklich memorabel zu machen, aber es schwächt die dramatische Wirkung des Films enorm ab. Ich hatte erst spekuliert, dass es ein Rating-Grund war (weil ich nämlich zunächst davon ausging, dass „Case 39“ PG-13 sein könnte und es in einem Film mit dieser Freigabe vermutlich nicht durchgegangen wäre, ein Kind zu töten), aber das war wohl nicht der Fall. Es beschränkt die Durchschlagskraft des Finales und schließt auch die Interpretationsmöglichkeit, dass Emily wie auch Liliths Eltern schlichtweg gaga sind, aus. Hätte ich nicht so gehandhabt. EXTREMSPOILERENDE

Schlussendlich gehört der Film aber den Schauspielern – Renée Zellweger, die nach ihren Anfängen in B-Filmen wie „Love and a .45“ und dem unglaublich betitelten „Return of the Texas Chainsaw Massacre“ schnell in die A-Liste aufstieg und sich für ihre „Bridget Jones“ etliche Pfunde anfutterte (und nicht alle wieder abtrainiert hat, möchte ich meinen) ist die ideale Besetzung für Emily – auch psychisch fragil genug, um ein Opfer abzugeben, mit dem man mitleiden, mitfiebern kann, und dabei weit weg genug vom typischen Hollywood-Starlet-Look; sie ist schlicht und ergreifend glaubwürdig als Sozialarbeiterin, deren eigenes Leben hinter dem Beruf anstehen muss und durch ihren Job eigene Traumata aufarbeitet; ebenso problemlos bewältigt sie den „Abstieg“ in die Hölle der (berechtigten) Paranoia im zweiten Teil des Films; Emily, wie Renée Zellweger sie spielt, ist keine starke Heroine, die dem „Bösen“ mit einem kessen Spruch auf den Lippen in den Arsch tritt, sondern eine verzweifelte Frau am Rande des Abgrunds (die sich nach dem Abspann auch schwer tun dürfte, ihre Handlungen zu erklären…). Und doch ist sie zweite Siegerin gegen Jodelle Ferland („BloodRayne II“, „The V Word“ und demnächst im dritten „Twilight“-Film). Ich bin bei Kinderdarstellern immer SEHR kritisch (der Dakota-Fanning-Hype z.B. geht mir ziemlich auf die Nüsse) und hab speziell mit „altklugen“ Kindern im Film immer so meine Probleme, aber Ferland… ist brillant und liefert für meine Begriffe die beste schauspielerische Leistung eines Kindes seit Kirsten Dunst in „Interview mit einem Vampir“. Ich liege da zwar meistens daneben (ich prophezeihte Dunst den Oscar für den „Vampir“ und bescheinigte Lacey Chabert nach „Lost in Space“ eine große Karrierezukunft), aber mich sollte echt wundern, wenn aus der kleinen Jodelle nicht mal ein großer Star wird. Die spielerische Eleganz, mit der sie zwischen kindlicher Unschuld und absolut bösartiger Berechnung umschalten kann, die perfekten kleinen Nuancen in Blick und Mimik, wenn sie gerade eine Todesdrohung ausspricht (vgl. speziell den schon angesprochenen Doug/Lilith-Dialog), das ist begeisterungswürdig. Ich ziehe sämtliche vorhandenen Hüte. Kerry O’Malley („Brotherhood“) und Callum Keith Rennie („Californication“, „Battlestar Galactica“, „Harper’s Island“) geben ein schön überspannt-hysterisch-„fertiges“ Elternpaar ab, Bradley Cooper (The Midnight Meat Train, „Er steht einfach nicht auf dich“, „Hangover“) ist grundsympathisch als Doug, Ian McShane („Deadwood“, „Nine Lives“ und gefragter voice-actor für Animationsfilme wie „Coraline“ oder „Kung-fu Panda“) mit seiner brummig-sachlichen Art ein idealer Gegenpart zur immer panischer werdenden Emily.

Fazit: Großes Gruselkino, wie ich es schlicht und ergreifend nicht erwartet hatte. Da sieht man mal wieder, dass ein gutes (nicht überragendes) Script durch grandiose Darstellerleistungen und eine unaufdringliche Regie, die nicht auf Teufel komm raus alle zwei Minuten einen jump scare setzen muss, sondern sich lieber auf einige wenige wirklich wirkungsvolle Szenen und ansonsten die sich stetig steigernde bedrohliche Atmosphäre setzt, geadelt werden kann. „Case 39“ ist einer der besten Mainstream-Grusler der letzten Jahre und wäre die Welt gerecht, würden Zellweger und vor allem Ferland mit allen denkbaren Schauspielpreisen überschüttet. Da’s dazu wohl nicht kommen wird, empfehle ich den Freunden des vergleichsweise sanften Horrors dringlich die Investition in ein Kinoticket bzw. die DVD. Machmal sind die Filme, auf die man keinen Bock hat, doch die „besten“ (und der Trailer ist trotzdem nicht wirklich gut, obwohl er einige der „money shots“ beinhaltet).

4/5
(c) 2009 Dr. Acula


mm
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