Engelchen – oder die Jungfrau von Bamberg

 
  • Deutscher Titel: Engelchen - oder die Jungfrau von Bamberg
  • Original-Titel: Engelchen - oder die Jungfrau von Bamberg
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  • Regie: Marran Gosov
  • Land: BR Deutschland
  • Jahr: 1968
  • Darsteller:

    Gila von Weitershausen (Katja), Ulli Koch (Tim), Dieter Augustin (Gustl), Gudrun Vöge (Doris), Edgar M. Böhlke (Volker), Michael Luther (Ulrich), Peter Wortmann (Christian), Christof Wackernagel (Franz), Hans Clarin (Graf), Hartmut Neugebauer (Hans-Jürgen Hoffmann), Helmut Markwort


Vorwort

Katja ist 19 Jahre, lebt in der altehrwürdigen Domstadt Bamberg und hat mit Dieter einen festen Freund. Allerdings ist sie mit sich selbst zutiefst unzufrieden – „Ich bin 19, ich bin fällig“, wie sie sich auszudrücken beliebt, bzw. im Klartext – sie strebt die ihrer Ansicht nach überreife Entjungferung an. Aus nicht unbedingt nachvollziehbaren Gründen soll diesen hehren Job aber nicht Dieter übernehmen und in der fränkischen Provinz gibt’s augenscheinlich keine geeigneten anderweitigen Stecher. Daher beschließt Katja, für drei Wochen nach München zu reisen, dort wird sich alles weitere dann schon finden.

Freundin Doris, die in einem Schallplattenladen (in dem Katja auch ihre Freizeit, in der sie nicht auf Männerfang ist, verbringt), hält diese Idee begreiflicherweise für ausgesprochen dämlich, kann sie ihr aber auch nicht ausreden. Die schiere Obdachnot treibt Katja in die Arme des renitent erfolglosen Erfinders Gustl, der gerade seine neueste geniale Idee (Babyfläschchen mit Thermometer) perfektioniert. Gustl ist nämlich für einen reichen Freund Wohnungssitter und hat, weil die große Wohnung sonst so leer wird, eine temporäre WG ausgerufen. Neben ihm residieren in der Bude noch der Kunstmaler Graf (der sein Geld weniger mit der Kunst als mit dem Bemalen von Polit-Plakaten für jedwede zahlungskräftige politische Richtung von DKP bis NPD verdient) und Sportreporter-slash-Playboy Tim. Letzterer wird von Katja umgehend als qualifizierter Deflorist eingeschätzt, doch wider Erwarten ist der, von Katja an und für sich durchaus eingenommen, nicht angetan, Dosenöffner zu spielen.

Das entwickelt sich für Katja zu einem echten Problem – die, die sie für brauchbar erachtet, zieren sich, und die, die mit Freuden über sie herfallen würden, na, die mag sie nicht. Und so verrint die wertvolle Zeit in der Metropole. In ihrer Verzweiflung verfällt Katja auf unsportliche Mittel – da’s doch irgendjemand aus ihrer WG sein soll, versucht sie durch Vortäuschung von Liebschaften und Matratzenakrobatik die Eifersucht ihrer Mitbewohner zu wecken…


Inhalt

Hach ja, die 68er… auch wenn der reaktionäre konservative Backlash ja derzeit nicht unerfolgreich versucht, alle Errungenschaften der wilden Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs, egal ob positiv oder negativ, wieder in die Tabu-Kiste zu packen, ganz besonders wenn es um de unverkrampften Umgang mit Sexualität geht, dieser Generation haben wir zu verdanken, dass wir über vieles, was zuvor nur hinter verschlossenen Türen besprochen werden konnte, offen reden können (noch jedenfalls).

Die 68er-Revolution war von Anfang an etwas, was auch im Film stattfand und sich hierüber in den Mainstream vorarbeitete – „Zur Sache, Schätzchen“ mag aus heutiger Rückschau ein naives kleines dummes Filmchen zu sein, gesellschaftspolitisch war das Ding aber wichtiger als alles, was die deutschen Autorenfilmer um Fassbinder, Herzog oder Schlöndorff jemals in die Lichtspielhäuser brachten. Und zudem auch noch kommerziell wahnsinnig erfolgreich und, da war der Markt damals nicht anders wie heute, Vorbild für andere findige Produzenten, die vom lukrativen Kuchen ein bis zwei Tortenstücke abhaben wollten.

Einer dieser Produzenten war der Holländer Rob Houwer, der sich über Kurzfilme und TV-Dokumentationen zu Spielfilmen hochgearbeitet hatte und seinen Platz im Pantheon wichtiger Filmproduzenten dadurch verdienen sollte, die ersten Filme von Paul Verhoeven („Türkische Früchte“, „Der vierte Mann“, „Soldat von Oranje“) auf den Weg gebracht zu haben. Die Regie übernahm der bulgarische Emigrant Marran Gosov, der später für so unterschiedliche TV-Serien wie „Okay S.I.R.“, „Anderland“ oder „Ein Fall für Zwei“ arbeiten sollte und mittlerweile als hoch geachteter Literat und Poet wieder in seiner Heimat tätig ist. Als Co-Autor wurde München-Spezialist Franz Geiger („Polizeiinspektion 1“, „Der ganz normale Wahnsinn“, „Unsere schönsten Jahre“) angeheuert.

Das Script, das am Ende dabei rauskam, ist sicherlich kein Paradebeispiel für stringentes Storytelling, sondern vielmehr eine Abfolge mehr oder minder (überraschenderweise meist mehr) amüsanter Episoden ohne größeren Gesamtzusammenhang, der über die zentrale Figur der Katja und ihren zunehmend desparate Ausmaße annehmenden Quest zur Verlust der Jungfernschaft hinausgeht. Wobei – einige der Vignetten haben damit nicht mal großartig zu tun, so z.B. wenn Gustl in der Kneipe seinen Kumpels die Vorzüge seiner thermostatkontrollierten Nuckelflasche darzulegen versucht, Gustl und Tim versuchen, einen Tennisprofi zu interviewen, einer von Katjas potentiellen Bespringern ihr das Bowlingspielen beibringt, oder, in der wohl rätselhaftesten Sequenz des Films, ein Kunde im Plattenladen ergriffen Joseph-Goebbels-Reden von Vinyl lauscht. Gerade diese vermeintlich sinnfreien Episödchen machen aber einen nicht unbeträchtlichen Teil des ebenso nicht unbeträchtlichen Charmes des Films aus, der – quasi am direkten Übergang von der verknöcherten Nachkriegsgesellschaft zur liberalen, freigeistigen Aufbruchsstimmung der späten 60er/frühen 70er – manchmal fast dokumentarisch das Zeitgefühl dieser Ära portraitiert. Mal abgesehen von der Hauptfigur selbst (was zugegeben ein wenig widersprüchlich wirkt, wenn gerade der zentrale Charakter der Schwachpunkt des ganzen Scripts zu sein scheint) wirkt der Film geradezu über-authentisch und natürlich (das trifft auch auf die ungekünstelten Dialoge zu, die von den Darstellern manchmal sogar richtig liebenswert verhaspelt werden. Das klingt dann gerne mal weniger nach auswendig gelerntem Schauspiel als nach sponatner, natürlicher Improvisation – und das würde ich beim „Spirit“ der 68er-Bewegung auch nicht ausschließen).

Das schwache Glied in der Kette ist, wie schon gesagt, die Figur der Katja – wie genau sie tickt, warum sie so ungeheuer scharf drauf ist, ihr Hymen ausgerechnet in München (und nicht von ihrem festen Freund) durchstoßen zu lassen, wird nie wirklich klar – gut, sie wird als ziemlich naives Landei ohne Lebenserfahrung dargestellt (weswegen sie ihren potentiellen Sexpartnern auch immer vorflunkert, sie sei gerade als Fotomodell in Rom gewesen), das noch nicht mal weiß, was die „Pille“ ist, aber gerade unter diesen Vorzeichen verwundert diese Deflorationsbesessenheit schon, weil man nicht wirklich versteht, woher dieser Trieb kommt, wodurch er befeuert wird. Ebenso kommt der Charakterwechsel von eben diesem naiven Landei zur berechnenden Manipulatorin ein wenig rasch.

Letztlich ist das aber kein K.O.-Kriterium gegen den Film, eben weil er so trefflich als Zeitkapsel funktioniert und dabei nicht mal zwingend diese, sagen wir mal, „politische“ Ebene von „Zur Sache, Schätzchen“ und das tiefe Eintauchen in die Prä-68er-Subkulturen aufgreift, sondern vielmehr eine dezidiert unpolitische Stimmung schildert (exemplarisch festgemacht an Graf, der selbst einen fraglos alternativen Lifestyle pflegt, dem aber völlig wurscht ist, ob seine Plakat-Auftraggeber von der CSU oder gar der NPD kommen). Es sind nicht ausdrücklich die „Gammler“ und „Nichtstuer“, die portraitiert werden, sondern „normale“ Menschen aus den unterschiedlichsten Millieus, mit denen Katja anbandelt, was den Streifen auf seine unbefangene Art repräsentiver für die Atmosphäre des damaligen Münchner macht als die „hippen“ reinrassigen „Schwabing“-Filme der gleichen Ära.

Natürlich ist „Engelchen“ als beabsichtigte Komödie konzipiert und, Überraschung-Überraschung, der Humor hat die 45 Jahre, die der Streifen auf dem Buckel hat, überraschend vollzählig überlebt. Ja, klar, es ist der ein oder andere humoristische Rohrkrepierer dabei, aber ein Großteil der Gags, die überwiegend auf Wortwitz – mit ein paar kleinen Ausflügen in Slapstick, die sich im Finale ballen – basieren, funktioniert tatsächlich (wenn auch manches, was anno 1968 ein Schenkelklopfer vor dem Herrn gewesen sein mag, mittlerweile „nur“ noch für ein Grinsen reicht).

Filmisch ist die Nummer erwartungsgemäß recht unspektakulär – es gibt einen kleinen Vorgriff auf die pseudodokumentarische Attitüde späterer Aufklärungs- und „Report“-Filme mit einer kleinen Interviewsequenz (in der ein harmloser Fragesteller vom Fremdenverkehrsamt von Katjas Antwort, sie wolle sich in München entjungern lassen, entwaffnet wird), ansonsten ist das alles sehr erdiger, bodenständiger Low-Budget-Look, der von seinen Location-Shoots in echten Kneipen, Läden und Wohnungen lebt und der Versuchung widersteht, sattsam bekannten Münchner Sehenswürdigkeiten abzuklappern. In den besten Momenten ist die Kameraarbeit beinahe dokumentarischer Beobachter, die reales Geschehen unkommentiert abzubilden scheint; das Tempo ist aufgrund der episodischen Struktur recht hoch, und wenn mal eine der Vignetten nicht zündet, kann man sicher sein, dass in drei-vier Minuten schon wieder eine neue Mini-Geschichte aufgemacht wird.

Als „Sexkomödie“ ist „Engelchen“ (das übrigens erfolgreich genug für ein Sequel und eine männliche Variante namens „Bengelchen liebt kreuz und quer“ war) aus heutiger Sicht natürlich absolut harmlos – die FSK-12-Neuprüfung kommt schon gut hin. Es gibt kaum Nacktszenen (und wenn, dann sind zu 99 % nur die rückwärtigen Partien im Bilde) – einzig bei einer weichgezeichneten Sequenz, in der Katja ein Nudistenpärchen beobachtet, sind Brüste (und ein Penis!) zu sehen.

Wie immer bei Filmen dieser Epoche ist der Soundtrack eine Rede wert – es ist interessant, dass bei einem ganz offensichtlich mit geringem Budget gedrehten Film ordentlich in den Score investiert wurde, denn der stammt vom Star-Jazzpianisten Jacques Louissier, der sich Ende der 60er/Anfang der 70er speziell mit seinen „Play Bach“-Alben, die nach meiner persönlichen Erfahrung in wirklich JEDEM Haushalt zu finden waren, und dank derer er einer der Vorreiter der „modernisierten“ Klassik ist, Welterfolge feierte. Daher hat „Engelchen“ auch einen ziemlich witzigen französischen Titelchanson und auch der Rest des Scores ist beschwingte, eingängige (und für mich erfreulich un-jazzige) Easy-Listening-Mucke, die auch den Fans von Jess-Franco-Scores gefallen müsste.

Ziemlich durchgeknallt ist auch die Besetzung – die Titelrolle ging kurzfristig an Gila von Weitershausen, die für die ursprünglich vorgesehen Sabine Sinjen einsprang. Wie so viele Sternchen der 68er-Junger-deutscher-Film-Schule schaffte sie relativ unproblematisch den Sprung ins „seriöse“ Fach. Nachdem sie 1971 auch mal bei Jess Franco vorbeischaute („X312 – Flug zur Hölle“) wurde sie in den 80ern zum Stammgast in allen möglichen Fernsehserien von „Patrik Pacard“ bis „Der Landarzt“. Gila ist hier nicht die klassische Sexbombe, sondern trifft ganz gut das gewünschte Bild „süß und naiv“ (und ich kenne mindestens einen Leser, der auf ihre Frisur abfahren wird).

Ulli Koch (Tim), dem ein bisschen mehr Ausstrahlung nicht schaden würde (er agiert nämlich schon etwas hölzern), war in anderer Rolle auch im Sequel mit dabei und wurde dann noch 1969 in „Trimm dich durch Sex“ (an der Seite eines anderen späteren braven TV-Stars, Anita Kupsch) gesichtet. Dort spielte auch Dieter Augustin, der den Gustl wirklich chaotisch-witzig gibt, wieder mit. Augustin wurde später Bestandteil der Klimbim-Familie, spielte in Car-Napping, „Zärtliche Chaoten“, „Der Andro-Jäger“, aber auch „Woyzeck“. Sein Filmdebüt feiert in „Engelchen“ Edgar M. Böhlke („Morlock“, „Echte Kerle“, „Ärzte“, „Große Freiheit“.

Zum eklektischen Cast gehört auch Christof Wackernagel, der sich in den 70ern der RAF anschloss. Wackernagel wurde nach einem Schusswechsel mit der Polizei festgenommen und 1980 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis distanzierte er sich von der RAF. Eine von Claus Peymann gestartete Kampagne zu seiner vorzeitigen Entlassung wurde in den 80ern zum Politikum. Nach seiner Entlassung profilierte Wackernagel sich wieder als Schauspieler und Schriftsteller und spielte in der TV-Serie „Abschnitt 40“ sogar einen Polizeikommissar.

Als Tennis-Crack Hoffmann debütiert Hartmut Neugebauer, einer der umtriebigsten deutschen Synchronsprecher, im Film u.a. auch in „Geheimcode Wildgänse“ zu sehen. Einen schmierigen Möchtegern-Anmacher gibt niemand geringeres als der spätere „Focus“-Chefredakteur Helmut Markwort (!), aber der ganz große Coup des Film ist fraglos Hans Clarin als Graf, der, wenn ich mich recht erinnere, ohne eine einzige Dialogzeile auskommt und mit offenem und bauchfreiem Hemd den freigeistigen Künstler gibt. Da wird selbst Pumuckl schwach…

Bildqualität: Die Eurovideo-DVD, die’s mittlerweile zum günstigen Discountpreis gibt, ist technisch sicher kein Weitwurf, aber doch ein gutes Stück besser als vergleichbare Releases von MCP o.ä. Zwar hat man dem 1.66:1-Print keinen anamorphen Transfer spendiert, aber der durchschnittliche Flachbildfernseher kann das Bild problem- und qualitätsverlustfrei auf 16:9 aufziehen. Das Bild selbst ist sauber, verschmutzungs- und defektfrei, Schärfe und Kontrast bewegen sich auf solidem Durchschnittsniveau.

Tonqualität: Mono-Ton, aber was anderes gab’s sicher auch 1968 im Kino nicht und dann ist mir so ein originalgetreuer Ton lieber als Upmixes oder Splits. Gut anhörbar ist’s auch ohne Surround-Feuerwerk.

Extras: Nur ein paar Trailer.

Fazit: Das war eine recht angenehme Überraschung – ich hatte mir die DVD schon vor einiger Zeit zugelegt, und jetzt frag ich mich, warum die Scheibe so lang im Regal vor sich hin staubte (andererseits: das tun gut 500 andere auch…). „Engelchen“ funktioniert tatsächlich sowohl als freche (wenn gleich natürlich aus purer heutiger Sicht nicht wirklich „anstößige“) Komödie wie auch als authentisch wirkende Zeitkapsel des Lebensgefühls am Anbruch einer neuen Ära. Dazu kommt noch die kuriose Besetzung und fertig sind 80 Minuten Spaß, die jeder Freund des deutschen Kintopps mal antesten sollte. Thumbs up!

4/5
(c) 2014 Dr. Acula


mm
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