Die Stunde des Leon Bisquet

 
  • Deutscher Titel: Die Stunde des Leon Bisquet
  • Original-Titel: Die Stunde des Leon Bisquet
  •  
  • Regie: Lutz Büscher
  • Land: BR Deutschland/Ungarn
  • Jahr: 1986
  • Darsteller:

    Klaus Schwarzkopf (Leon Bisquet), Günther Mack (Kommissar Lamotte), Beatrice Kessler (Antoinette), Hans-Peter Hallwachs (Jacques Coudin), Matthias Ponnier (Nicolas Coudin)


Vorwort

Versins, ein kleines französisches Kaff in der Nähe von Amiens – Leon Bisquet ist der Bahnhofsvorsteher, was bei 28 Dienstjahren aber eher als durch die Blume gesagtes „FU“ seitens seiner Vorgesetzten zu verstehen ist. Niemand nimmt den Sonderling, der nach dem Tod seiner Frau und der Flucht seiner Tochter Antoinette nur noch mit seinem Papagei Coco zusammenlebt und gelegentlich, an deren freien Tagen, die Kellnerin Denise flachlegt, wirklich ernst, so dass sich der sein Lebtag lang von allen verspottete und gedemütigte Leon in ene gepflegte Misanthropie zurückgezogen hat. Eines Tages verstirbt Coudin, der örtliche Patriarch, und hinterlässt eine millionenschwere Erbschaft, auf die seine Neffen Jacques (mit einer Hotelbesitzerin verheiratet und in Leons Augen ein ganz netter Kerl) und Nicolas (Chef einer Ziegelei) spekulieren. Nicolas war seinerzeit der Geliebte Antoinettes, was allgemein bekannt ist und den Ziegelbrenner nicht gerade für eine Top-Position auf Leons Freundesliste prädestiniert.

Am Tag nach Coudins Beerdigung wird am Bahndamm ein toter Schwarzafrikaner gefunden – niemand weiß, wer er ist bzw. war, niemand hat ihn gesehen, nur Leon, und der sieht seine Stunde gekommen. Aus seinen Beobachtungen reimt er sich zusammen, dass der tote Schwarze nicht, wie auch der herbeigerufene Kommissar Lamotte zunächst vermutet, aus dem fahrenden Zug gefallen oder gesprungen ist, sondern vor seinem Tod in Virsens war. Leon beschließt, sein Wissen zunächst für sich zu behalten und gewinnbringend einzusetzen.
Gleichzeitig taucht Antoinette wieder auf und quartiert sich in Leons Wohnung ein. Als herauskommt, dass der Tote Coudins Enkel und Alleinerbe war, zählt Leon zwei und zwei zusammen und wird mit dem Ansinnen nach einer größeren Geldsumme bei Nicolas vorstellig. Aber vielleicht hat sich der alternde Bahnhofswärter da ein Stück zuviel abgebissen…


Inhalt

Das Kulturprogramm auf badmovies.de geht weiter – nach Titanic – Nachspiel einer Katastrophe befassen wir uns mit einem weiteren Fernsehspiel aus den 80er-Jahren, wieder unter Regie von Lutz Büscher. Unterschiedlicher aber könnten die Filme nicht sein – statt der halbdokumentarischen Aufbereitung historischer Fakten versucht sich Büscher mit „Die Stunde des Leon Bisquet“ an einer Literaturadaption.

„Leon Bisquet“ basiert auf dem Roman „Der Neger“ (in politisch unkorrekteren Zeiten schlicht und korrekt übersetzt) von „Maigret“-Erfinder Georges Simenon. Der überaus produktive belgische Schriftsteller, der in seiner Glanzzeit 80 Seiten am Tag runterholzen konnte (und sich, als er berühmt wurde und zurecht davon ausging, dass von ihm gewisse Qualität erwartet wurde, mühevoll auf 20 Seiten/Tag beschränkte), hat sich seinen Platz im Pantheon der großen europäischen Kriminalautoren allein schon durch die zahllosen Romane um seinen berühmten Kommissar Maigret verdient, obwohl oder gerade weil Maigret kein „typischer“ Ermittler war. Simenon interessierte sich weniger für die Mechanik des Verbrechens (weswegen Maigret in den Romanen die eigentliche Ermittlungsarbeit überwiegend seinen kompetenten Assistenten überließ), sondern für die psychologische Analyse, weder die Tat an sich noch die Suche nach dem Täter steht im Mittelpunkt, sondern „das Verständnis“ der Tat. So sind denn auch Maigrets Widersacher keine Erzbösewichter, sondern – wie Maigret selbst – ins Alltagsleben integrierte Normalbürger. Simenons Nicht-Maigret-Romane beackern ähnliche Gefilde, spielen im kleinbürgerlichen Millieu und handeln von unzufriedenen, unglücklichen Menschen – im Vergleich zu den Maigret-Romanen fehlt hier zumeist das optimistisch-ausgleichende Moment (personifiziert im Kommissar selbst, der mit Mitgefühl und Sympathie für die kleinen Leute und Skepsis gegenüber dem Großbürgertum und der Rechtsprechung amtiert).

„Der Neger“ passt hervorragend in dieses Schema – sein Protagonist, Leon Bisquet, ist einer von diesen ewig Unzufriedenen, dessen Leben praktisch jede denkbare falsche Abzweigung genommen hat und der sich eigentlich nichts sehnlicher wünscht als den Respekt und die Anerkennung seiner Mitmenschen (speziell derer, die in der sozialen Hackordnung auf der gleichen oder höheren Ebene stehen). Er ist weder besonders schön noch besonders schlau (hält sich aber zumindest für cleverer als man es ihm zutraut), er fühlt sich missachtet, gedemütigt (teilweise berechtigt, aber er *ist* nun mal auch ein Versager), und wenn er schon nicht „dazugehören“ kann, dann will er „denen“ wenigstens einmal eins auswischen. Als er nun feststellt, dass er der einzige ist, der den bewussten Neger in lebendigem Zustand gesehen hat (außer dem Mörder, versteht sich), wittert er seine Chance.
Es mag auf den ersten Blick ein wenig überraschend erscheinen, dass Bisquet von „toter Schwarzer am Bahndamm, wo er nicht hingehört“ auf „lieber schweigen und hoffen, dass man dieses Schweigen gewinnbringend vermarkten kann“ kommt, ohne überhaupt nur auf den Gedanken zu verfallen, seine Beobachtung der Polizei zu melden, aber für eine Figur wie Bisquet ist es folgerichtig: er mag im Leben nichts erreicht haben und ist dennoch oder deswegen ein unleidlicher Egoist (und zudem ein echter „Frauenfreund“ – das gelegentliche Poppen von Denise ist ein völlig ent-emotionalisierter Akt; seinem Papagei Coco hat er beigebracht, jede Frau, die in seine Wohnung kommt, „Hure“ zu nennen, und als seine Tochter wiederauftaucht und sich im Schlafzimmer einquartiert, das Leon nach dem Tod seiner Frau unverändert gelassen und sich selbst im ehemaligen Kinderzimmer eingerichtet hat, ist das gleich mal ein Grund für einen väterlichen Anschiss erster Kajüte) – der „Gemeinschaft“ (durch sachdienliche HInweise bei der Aufklärung eines Mordfalls) zu helfen, kommt ihm nicht in den Sinn, er *braucht* den persönlichen Vorteil als Fahrkarte in ein „besseres“ Leben.

Konsequenterweise macht der eigentliche „Krimi“-Part, also die Identifizierung des Mörders und Leons (sein Name ist übrigens die Kurzform von „Napoleon“, was eine wenig subtile Anspielung im Hinblick auf Leons Minderwertigkeitskomplex ist – wobei man sich fragen darf, was ist Ursache, was ist Wirkung?) naiven Versuch, Profit aus der Affäre zu schlagen, gerade mal die letzten 20 Minuten des Films aus – „Die Stunde des Leon Bisquet“ ist weniger Thriller denn Studie eines derangierten Charakters. Im ersten Filmdrittel lernen wir Leon und seine „Welt“ kennen (die im Grunde nur aus seinem Bahnhof, an dem nur ein paar Bummelzüge halten, der im Bahnhof befindlichen Wohnung und der Kneipe seines einzigen Vertrautens und Domino-Partners Gideon – der Leon aber auch für verschroben hält – besteht); im zweiten Drittel versucht Leon dann vorsichtig in die Welt der Coudins einzudringen (er verkehrt nun nicht mehr in Gideons Kneipe, sondern in der Hotelbar von Jacques‘ Ehefrau, und versucht durch vermeintlich unschuldige Fragen herauszubekommen, wer ein Geheimnis, das mit dem Tod des Negers zu tun hat, haben könnte). Der Klappentext, der etwas großspurig von einem „Duell“ des Polizisten Lamotte und Leon spricht, liegt neben der Spur, ein solches gibt es nicht (schon allein, weil Lamotte und Leon intellektuell in ganz anderen Gewichtsklassen spielen) – ohne Lamotte (der letztlich den Toten als Enkel des verstorbenen Coudin identifiziert) könnte Leon seinen Plan nicht durchziehen, weil es ihm schlicht an der Fähigkeit mangelt, ohne diese Information aus dem Verhaltensweisen der diversen Coudin-Hinterbliebenen die richtigen Schlüsse zu ziehen (und Lamotte selbst ahnt zwar, dass Leon Informationen zurückhält, rechnet ihn aber nie ernstlich zu den Verdächtigen). Wie es eben Simenons üblicher opus moderandi ist, ist das eigentliche Verbrechen nicht mehr als ein MacGuffin, um eine Charakterentwicklung in Gang zu bringen, und der einzige Charakter, der Simenon interessiert, ist der von Leon Bisquet, alle anderen, selbst seine Tochter, sind streng genommen nur plot devices. Die Geschichte ist also weniger auf Spannungserzeugung (obwohl’s zum Ende hin natürlich praktisch automatisch spannend wird) denn auf die Psychostudie seiner Hauptfigur angelegt und funktioniert in diesem Sinne prächtig.

In Punkto filmische Umsetzung ist „Leon Bisquet“ quasi der komplette Gegenentwurf zu Büschers vorhergehendem „Titanic“ – anstatt einer reinen Soundstage-Produktion mit nur wenigen exteriors gibt sich „Bisquet“ deutlich „filmischer“; wir haben ein gerüttelt Maß an Außenaufnahmen und auch die Interiors sehen stark nach Location-Dreh aus (es dürfte wieder einmal Ungarn gedoublet haben). Technische Kabinettestückchen sind nicht zu erwarten, aber es ist alles sehr ordentlich fotografiert und, wie üblich bei einem öffentlich-rechtlichen Fernsehspiel, sehr liebevoll und detailfreudig ausgestattet (wie bei den meisten Simenon-Adaptionen wird die Geschichte in die relative Gegenwart verlegt; der Roman stammt aus den 50er Jahren). Obschon nicht wirklich viel *passiert*, gelingt Büscher eine flüssige Dramaturgie – ich weiß nicht, ob ich das schon mal verraten habe, aber ich bin ein notorisch ungeduldiger Mensch und kucke geradezu pathologisch auf die Restzeitanzeige des Players. In diesem Fall kuckte ich – absolut nicht gelangweilt – erstmals nach, als der Krimiplot in die Gänge kam und stellte fest… schon eine Stunde rum! Und ich hatt’s gar nicht so richtig mitgekriegt. Büscher muss also offensichtlich einiges richtig gemacht haben (was natürlich auch daran liegt, dass er die bzw. in dem Falle hauptsächlich *den* Darsteller hat, der eine solche Studie intensiv und teilweise beklemmend gestalten kann).

Musik glänzt weitgehend durch Abwesenheit – nur vereinzelt werden Szenen durch gefällige poppige Klänge der deutschen Jazz-Legende Klaus Doldinger („Das Boot“) untermalt. Die FSK-6-Freigabe zeigt mal wieder die Schwäche des hiesigen Systems auf – klar, in diesem Film gibt’s nichts, was einen Achtjährigen aufregen oder seelisch beeinträchtigen könnte, die eher misanthropische Weltsicht der Geschichte würde ich jetzt aber nicht unbedingt als Kinderprogramm ansehen…

Klaus Schwarzkopf, einer der wichtigsten deutschen Fernsehschauspieler der 70er (u.a. der Kommissar im legendären Nasti-Kinski-Tatort „Reifeprüfung“, zudem auch in „Die Buddenbrooks“ zu sehen), dürfte manch einem möglicherweise als Synchronsprecher (u.a. natürlich als originale Stimme von Peter Falk in „Columbo“) vertraut sein – das ist in diesem Fall sogar eine recht reizvolle Querverbindung, denn wo Falks Columbo seine Naivität nur vortäuscht, um seine Gegenspieler in Sicherheit zu wiegen, ist Bisquet eben *wirklich* naiv, glaubt aber, verschlagen und manipulativ zu sein, sozusagen ein Anti-Columbo. Schwarzkopf muss auf dem schmalen Grad wandeln, seine Figur einerseits nachvollziehbar und glaubhaft, andererseits aber eben auch nicht *zu* sympathisch werden zu lassen (klar, natürlich sollen wir Bisquet mit gewisser Sympathie begegnen, aber eben auch nicht vergessen, dass sein Verhalten moralisch falsch ist und zum anderen seine Außenseiterposition in der Dorfgemeinschaft zu einem nicht unerheblichen Teil sein eigener „Verdienst“ ist) und erledigt das vorzüglich – sowohl die tragikomischen als auch die rein dramatischen Elemente bewältigt er mit Bravour.

Günther Mack (Lamotte, zu sehen in „Bel Ami“, „Alle meine Töchter“ und „Nicht ohne meinen Anwalt“) hat natürlich schlicht nicht die Fülle an Material, die Schwarzkopf zur Verfügung steht. Er verkörpert den Inspektor als bodenständigen Kriminalen mit viel Menschenkenntnis und leichten exzentrischen Neigungen; wäre interessant, wie ein Film mit umgekehrter Rollengewichtung ausfallen würde. Mack macht das insgesamt gut, ist aber halt nur „erster Nebendarsteller“ und nicht „zweiter Hauptdarsteller“.
Die eidgenössische Leihgabe Beatrice Kessler („Die Schweizermacher“, „Schwarzwaldklinik“, „Unsere Hagenbecks“) kann aus der Tochter-Rolle mangels Masse nicht viel Gewinn ziehen (in ihrer entscheidenden Szene trägt sie für meinen Geschmack dann auch etwas zu dick auf).
Die Cadieu-Brüder werden von den Routiniers Hans Peter Hallwachs („Der Sommer des Samurai“, „Otto – der Außerfriesische“, „Der große Bellheim“, „Der Bulle von Tölz“) und Matthias Ponnier („Ärzte“, „Tatort“) gemimt – während Hallwachs reichlich steif agiert, macht Ponnier aus seinem prolligen Nicolas das Bestmögliche.
Louise Martini („Irgendwie und sowieso“, „Mit Leib und Seele“, „Es muss nicht immer Kaviar sein“) hat in der verhältnismäßig kleinen Rolle der Hallwachs-Ehefrau nicht sonderlich viel zu tun.

Bildqualität: Pidax bringt den Film in anständigem 4:3-Vollbild. Abgesehen von einem kleinen Störblitz im ersten Filmdrittel lässt sich qualitativ wenig gegen den Print sagen – er ist ordentlich scharf (im Gegensatz zu „Titanic“ auch in der Tiefe des Bildes), bietet akzeptablen Kontrast und klaglose Kompression.

Tonqualität: Dolby Digital 2.0 der pragmatischen Sorte. Vollkommen ausreichend für den hiesigen Zweck.

Extras: Leider nichts.

Fazit: „Die Stunde des Leon Bisquet“ dürfte vornehmlich für den Zuschauer interessant sein, der mit Claude Chabrols „Krimis“ etwas anfangen kann. Simenons literarische Vorlage dekonstruiert eine kleinbürgerliche Existenz (so wie es Chabrol vornehmlich in höheren gesellschaftlichen Sphären gerne tat – was ihn nicht daran hinderte, auch zweimal Non-Maigrets von Simenon zu adaptieren, darunter den wohlgelittenen „Die Fantome des Hutmachers“) – der Kriminalfall ist dabei nur ein Katalysator, nicht der Dreh- und Angelpunkt des Plots, sondern nur der Anlass. Unter Büschers souveräner Regie leistet Klaus Schwarkopf in der Titelrolle Großes und macht „Die Stunde des Leon Bisquet“ zu einem echten Leckerbissen für die Freunde anspruchsvoller TV-Unterhaltung.

4/5
(c) 2011 Dr. Acula


mm
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