- Deutscher Titel: Der Verdacht des Mr. Whicher: Der Mord von Road Hill House
- Original-Titel: The Suspicions of Mr. Whicher: The Murder at Road Hill House
- Regie: James Hawes
- Land: Großbritannien
- Jahr: 2011
- Darsteller:
Paddy Considine (Det. Jack Whicher), Peter Capaldi (Samuel Saville Kent), Tom Georgeson (Superintendent Foley), William Beck (Dolly Williamson), Emma Fielding (Mary Kent), Tom Pigott-Smith (Commissioner Mayne), Kate O’Flynn (Elizabeth Gough), Donald Sumpter (Peter Edin QC), Ben Miles (Dr. Stapleton), Alexandra Roach (Constance Kent), Charlie Hiett (William Kent)
Vorwort
Im englischen Hinterland, 1860… die Familie des örtlichen Großkopferten Samuel Saville Kent (Peter Capaldi, DOCTOR WHO, THE THICK OF IT) wird Opfer eines abscheulichen Verbrechens. Kents vierjähriger Sohn Saville wird in der Nacht aus dem Kinderbettchen entführt und am nächsten Tag nach hektischer Suche durch die lokale Polizei und die Dorfbevölkerung unzeremionell in den Abort gestopft (und überdies auch noch erstochen) aufgefunden. Die Dorfpolente unter Führung von Superintendent Foley (Tom Georgeson, EIN FISCH NAMENS WANDA, TAGEBUCH EINES SKANDALS) ist überfordert, und die Öffentlichkeit, geschockt über Dreistigkeit und Brutalität des Verbrechens, verlangt lautstark nach einem aufknüpfbaren Täter. Die Angelegenheit wird selbst im Parlament hitzig diskutiert, so dass die Londoner Metropolitan Police in Person von Polizeichef Mayne (Tim Pigott-Smith, V WIE VENDETTA, JAMES BOND 007 – EIN QUANTUM TROST) auf politischen Druck des Innenministers ihren besten Ermittler, den modernen Kriminalisten Whicher (Paddy Considine, THE WORLD’S END, BLITZ, DAS BOURNE ULTIMATUM) in die Provinz schickt, damit der schnell und auf überzeugende Art einen Mörder präsentiert.
Whicher stellt schnell fest, dass Foley mehr oder minder unfähig ist – der Dorfcopvorsteher hat seinen exklusiven Verdacht auf Kindermädchen Elizabeth Gough (Kate O’Flynn, BRIDGET JONES‘ BABY) gerichtet, unter der Maßgabe, dass es extrem unwahrscheinlich sei, dass jemand Saville hätte entführen können, während Elizabeth praktisch direkt daneben den Schlaf der Ungerechten pennte. Aber das Mädchen beteuert seine Unschuld und irgendwelche Beweise, die darüber hinausgehen, dass Elizabeth Saville nun nicht gerade abgöttisch geliebt hat, kann auch niemand vorbringen. Die Dörfler ihrerseits vermuten stark, dass Samuel Kent persönlich seine Finger im bösen Spiel hat – zum Einen ist der Herr als Vertreter der herrschenden Kaste per se und Fabrik-Inspektor, der sich die Ausmerzung der Kinderarbeit verschrieben hat (und daher dafür verantwortlich ist, dass den armen Familien nicht unbeträchtliche Teile ihres Einkommens, das die Kinder verdient haben, verlustig gegangen sind) im Speziellen geringfügig populärer als die Beulenpest, zum Anderen trommelt der Buschfunk, dass Kent ein Verhältnis mit Elizabeth gepflegt habe und sich womöglich vom eigenen Lendensproß in flagranti gestört fühlte.
Gerüchte hin, keine Beweise her, Whicher ist sich relativ schnell sicher, dass das Verbrechen nur von einem Familienmitglied begangen worden sein kann. Ob nun von Mr. Kent, seiner zweiten Frau Mary (Emma Fielding, DAS GEHEIMNIS DER GEISTER VON CRAGGYORD, FAST GIRLS) oder seinen Kindern aus erster Ehe, Tochter Constance (Alexandra Roach, DIE EISERNE LADY, THE HUNTSMAN & THE ICE QUEEN) und William (Charlie Hiett, OUTLANDER: DIE HIGHLAND SAGA, ROBIN HOOD: THE REBELLION), das muss sich doch herausfinden lassen. Familienarzt Dr. Stapleton (Ben Miles, V WIE VENDETTA, NINJA ASSASSIN, SPEED RACER) lässt durchblicken, dass Constance, wie ihre verstorbene Mutter, mentale Probleme habe. Whicher konfrontiert Constance mit seinem Verdacht, aber das Mädchen weist die Anschuldigungen – auffällig gefühlkalt, aber nichtsdestoweniger bestimmt – zurück. Whicher kapriziert sich auf ein verdächtiges Indiz – das tote Kind war in ein Nachthemd eingewickelt, Constances eigene Wäscheliste führt drei Nachthemden auf, aber vorhanden sind nur zwei. Constance behauptet, das fehlende dritte wäre von der Wäscherin der Familie verschlampt worden.
Mayne schickt Whichers Partner Williamson (William Beck, SNATCH, GOAL II, VITAL SIGNS) als Verstärkung, denn der politische Druck wird immer stärker – man verlangt nach einer Verhaftung, koste es, was es wolle. Whicher hat nichts Handfestes, lässt sich aber so weit unter Druck setzen, dass er Constance vorläufig verhaften lässt und eine Frist von einer Woche herausschlägt, in der er weitere Beweise finden will.
Tatsächlich findet Whicher eine Zeugin – Emma Moody (Beth Cooke, INSPECTOR BARNABY), ein früheres Kindermädchen der Familie, das nicht nur aussagt, dass Constance Saville gehasst habe und Mr. Kent ein gewisses Muster, was das Beschlafen von Hausangestellten angeht, pflege – die jetzige Mrs. Kent habe auch nur als Hausmädchen angefangen und, sobald sie die Position der Familienmatriarchin übernommen hatte, das in Constance köchelnde Feuer des Hasses nach Kräften angeschürt habe.
Die Kents geben zu, dass Constance zu Gewaltausbrüchen neige, aber Mr. Kent verneint energisch, mit Elizabeth fremdgepoppt zu haben. Whicher ist sich sicher, dass das fehlende Nachthemd der Schlüssel ist – den vermeintlichen Verlust des guten Stücks in der Wäscherei könnte Constance orchestriert haben. Foley und seine Dorftrottelcops sollen Haus und Garten des Kent-Anwesens auf den Kopf stellen und das Teil finden. Whicher vermutet zudem, dass Constance die Tat nicht allein begangen hat, sondern ihr Bruder William mindestens Mitwisser, wenn nicht Mittäter war. Doch als Whicher versucht, den Jungen mit aller Härte mit dem Verdacht zu konfrontieren, erweist sich der als solches Weichei, dass der Detective gar nicht erst dazu kommt, ihm die wirklich wichtigen Fragen zu stellen.
Als nach Ablauf der Wochenfrist die gerichtliche Anhörung stattfindet, fällt Whicher gleich dreifach aus allen Wolken. Foley hat eigenmächtig die Suche nach dem Nachthemd abbrechen lassen, weil sie seines Erachten sinnlos sei, Mr. Kent, der die Aufklärung des Mordes um jeden Preis verlangt hatte, hat nun plötzlich einen Anwalt für seine nach Whichers Ansicht wie die Sünde schuldige Tochter engagiert, und als der Rechtsverdreher Emma verhört, behauptet die das glatte Gegenteil ihrer Aussage gegenüber Whicher. Whichers Anschuldigungen fallen wie ein Kartenhaus zusammen – es kommt nicht mal zu einer Anklage, und Whicher – dem auch keine weiteren Ermittlungen erlaubt werden – kann seinem guten Ruf als bester Bulle Englands nur noch traurig hinterher winken…
(SPOILER)
Fünf Jahre später – Whicher hat entehrt den Polizeidienst quittiert und die Laufbahn eines Losers eingeschlagen, als er überraschend von seinem alten Partner und Nachfolger Williamson aufgesucht wird. Constance, von ihrer Familie nach der Anhörung umgehend in ein Nonnenkonvent verklappt, hat angeblich bei ihrem Priester ein Geständnis abgelegt, doch das ist vom Beichtgeheimnis geschützt…
Inhalt
Kriminaldramen im viktorianischen England sind mittlerweile praktisch ein eigenes Subgenre – kann man auch verstehen, denn von der Ausgangsbasis des guten alten Jack the Ripper, dessen Popularität als erster moderner Serienkiller bis heute ungebrochen ist, hat sich dieses vermeintlich verknöcherte und staubtrockene Zeitalter als ein Festival der menschlichen und moralischen Abgründe entpuppt. Das darf eigentlich auch niemanden überraschen, denn dass gerade in Zeiten, in der besonders vordergründig streng auf Sitte, Anstand und Moral gepocht wurde, mussten sich unterdrückte Aggressionen ja zwangsläufig auf gewalttätige Weise Bahn brechen. Quasi folgerichtig führte diesen in vielen Fällen ungeahnten Brutalitäten zur Geburtsstunde der modernen Kriminalistik. Forensik, kritische Beweiswürdigung, Täterprofiling – das alles wurde mehr oder weniger im viktorianischen Zeitalter erfunden…
Und es gibt genug reale Fälle, die von Drehbuchautoren aufgegriffen und adaptiert werden können. So z.B. auch der Fall Constance Kent, der in den 1860ern England in helle Aufregung versetzte und zu heftigen politischen Kontroversen führte. Der Stein des Debattenanstoßes war in erster Linie der Umgang mit dem Beichtgeheimnis. Im Gegensatz zum römisch-katholischen Kirchenrecht sahen weder die Doktrin der anglikanischen Kirche noch die weltliche Gesetzgebung einen besonderen Schutz des Beichtgeheimnisses vor; Befürworter des absoluten Schutzes des Beichtsakraments, wenig überraschend primär aus den klerikalen Kreisen kommend, beriefen sich auf eine Art Gewohnheitsrecht, eher weltlich orientierte Politiker forderten hingegen eine Verpflichtung von Priestern, beim Bekanntwerden relevanter Informationen bezüglich Gewaltverbrechen diese an die Ermittlungsbehörden weiterzugeben. Die heutige Auslegung tendiert dazu, dass die Priester-Beichtkind-Beziehung gesetzlich nicht geschützt ist, faktisch wird dies aber auf Einzelfallbasis, durchaus je nach Gusto des zuständigen Richters, entschieden.
Unser heutiger Film, der erste von vier Fernsehfilmen um den Kriminalisten Jack Whicher, basiert auf dem gleichnamigen Buch von Kate Summerscale, die den Constance-Kent-Fall 2008 zu einem auf den realen Fakten aufbauenden Roman verarbeitete (die weiteren Episoden der Reihe behandeln aber rein fiktive Fälle). Buch und Verfilmung (Drebhuch von Neil McKay, HOLBY CITY) kleben förmlich an der authentischen Schilderung der Ereignisse, und das ist, um’s vorwegzunehmen, einerseits zwar löblich, andererseits aber auch das Verderben des Films.
Denn letztlich, so aufsehenerregend und spektakulär der Fall 1860 auch gewesen sein mochte, er ist filmisch nicht sonderlich ergiebig. Das Verbrechen geschieht, Inspektor Whicher wird hinzugezogen und ermittelt, konzentriert sich auf eine Verdächtige, kann sie aber nicht überführen. Die Wiederaufnahme des Falls fünf Jahre später hat streng genommen nichts mit Whichers Ermittlungen zu tun, vollzieht sich dementsprechend auch off-screen und führt zu einem Gerichtsverfahren, in dem (SPOILER) letztlich aber auch nicht wirklich sonderlich Denkwürdiges geschieht – Constance wird angeklagt, bekennt sich schuldig, wird verurteilt. Es gibt auf dem Weg dahin keine Twists und Turns, in der finalen Gerichtsverhandlung keine dramatischen Plädoyers, Beweisaufnahmen oder Zeugenbefragungen, und die einzig wirklich offene Frage, nämlich ob und inwieweit William Komplize seiner Schwester war, bleibt – auch mangels einer definitiven Antwort auf diese Frage im richtigen Leben – ungeklärt. Es ist dann halt alles nicht wahnsinnig spannend, und wem weniger auf der sachlichen Aufarbeitung eines wahren Kriminalfalls denn an einem unterhaltsamen Krimi-Abend gelegen ist, dem wird die ganze Nummer dann doch zu wenig aufregend sein.
Wie gesagt, in Punkto Authenzität und Wahrheitstreue 10/10, aber das macht eben nicht automatisch einen fesselnden Film – es hat schon seine Gründe, warum „based on a true story“ in den allermeisten Fällen bedeutet, dass ein Autor ein-zwei Namen und einen groben Vorfall hernimmt und den Rest frei fabulierend zusammenspinnt. McKay und Regisseur James Hawees (DOCTOR WHO, BLACK MIRROR, PENNY DREADFUL) erzählen die Geschichte in einem gemächlichen Tempo, mit ruhigen, unspekulativen Bildern und völlig geradlinig – jede DERRICK-Folge hat mehr unerwartete Wendungen., jede Episode HUBERT UND STALLER mehr Action.
Natürlich kann man THE SUSPICIONS OF MR WHICHER als konsequent entschleunigten Gegenentwurf zum modernen TV-Storytelling mit seinen vertikalen Erzählebenen und kinotauglichen Visuals ansehen und das für einen erstrebenswerten Ansatz halten, aber es ist halt dann auf einer dramaturgischen Ebene schon sehr wenig, was THE MURDER AT ROAD HILL HOUSE im Endresultat anbietet. Während die eigentliche Fall-Ermittlung trotz des vermeintlichen Zeitdrucks, dem Whicher ausgesetzt sein soll, träge und zähflüssig vor sich hin plätschert, bleibt interessantes Konfliktpotential am Rande unausgenutzt: weder der Kontrast zwischen Whichers modernen Ermittlungsmethoden und Foleys althergebrachter „wer reich ist, kann nicht kriminell sein“-Einstellung noch die Feindseligkeiten der Dorfbevölkerung gegenüber Kent wegen dessen progressiver Anti-Kinderarbeit-Denke wird für mehr verwendet als ein paar hingeworfene Dialogzeilen am Rande, dabei hätte ob der reichlich monothematischen Detektivarbeit Whichers der ein oder andere Nebenkriegsschauplatz der Dramaturgie des Films geholfen, ohne dabei zu stark die beabsichtigte Authenzität der realen Fall-Basis zu stören (zumal es auch einem verdienten Güteklassenakteur wie Peter Capaldi, der als Samuel Kent tatsächlich einigermaßen unterbeschäftigt bleibt, vielleicht ein bisschen mehr Entfaltungsmöglichkeit geboten hätte).
Die Atmosphäre der viktorianischen Provinz wird von Hawes fraglos gut eingefangen – Kostüme, Maske und Set Design sind überzeugend und vermitteln ein realistisches Bild der Ära; Kameraarbeit und Schnitt bleiben konservativ, Gewaltdarstellungen gibt es exakt keine, die sich auftuenden Abgründe hinter der wohlfeilen Fassade des Kent-Heims bleiben quasi visuell unausgesprochen – wir reden drüber, aber wir zeigen sie nicht. Das ist natürlich ein gültiger Ansatz, aber es bleibt eben auch einer, der bei aller Anerkennung des Retro-Ansatzes fürcherlich altbacken wirkt.
Schauspielerisch brennt natürlich bei einem britischen Cast nichts an. Paddy Considine gelingt das Kunststück, Whicher nicht zu deutlich in einen Helden zu stilisieren, sondern auch glaubhaft zu machen, warum er von Foley und den Landeiern überwiegend als arroganter Stadtbulle abgelehnt wird. Peter Capaldi hat als Kent, wie erwähnt, insgesamt nicht sehr viel zu tun, aber den leicht blasierten Gentleman (der nicht so Gentle ist, wie er vielleicht vorzugeben scheint), bekommt er im Schlaf hin, und Alexandra Roach ist als gefühlskalte Mordverdächtigte mit minimalem Aufwand maximal effektiv. Auch die Nebenrollen sind durch die Bank treffend besetzt.
Am Ende des Tages ist es letztendlich eine ziemlich zähe Angelegenheit, die sich, wenn man nicht speziell auf die akribische Rekonstruktion viktorianischer Kriminalfälle ohne Rücksicht auf eine spannungserzeugende, fesselnde filmische Umsetzung, Wert legt, einigermaßen schwer tut, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu halten. Die detailfreudige Gestaltung und das hochklassige Schauspiel bekommt man heutzutage auch in deutlich „lebendigeren“, flotter inszenierten und generell mitreißenderen viktorianischen Crime-Procedurals (man denke nur an THE LIMEHOUSE GOLEM). Mir jedenfalls ist MR WHICHER dann doch zu fad…
(c) 2019 Dr. Acula
BOMBEN-Skala: 5
BIER-Skala: 4
Review verfasst am: 12.12.2019