Der Marder von London

 
  • Deutscher Titel: Der Marder von London
  • Original-Titel: Never Let Go
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  • Regie: John Guillermin
  • Land: Großbritannien
  • Jahr: 1960
  • Darsteller:

    Richard Todd (John Cummings), Peter Sellers (Lionel Meadows), Elizabeth Sellars (Anne Cummings), Adam Faith (Tommy Towers), Carol White (Jackie), Mervyn Johns (Alfie Barnes), Noel Willman (Inspector Thomas), David Lodge (Cliff)


Vorwort

Harte Zeiten für den biederen Londoner Kosmetikvertreter John Cummings – nicht nur, dass seine Verkaufszahlen nach Ansicht seines Chefs schwer zu wünschen übrig lassen, nein, eine Bande elendliglicher Schweineköpfe klaut sein brandneues Auto. Normalerweise würde man nun zu seiner Versicherung dackeln und sich auszahlen lassen, aber Sparstrumpf John hat aus monetären Erwägungen (klamme Kassenlage) die Diebstahlversicherung als nachrangiges Problem angesehen. Die Polizei gibt sich unverbindlich, was unserem Helden nicht weiter hilft. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist man als Außendienstmitarbeiter auch nicht ganz vorn dabei, was sich auf Johns Popularität im Betrieb negativ auswirkt. Da die Polente seiner Ansicht nach entschieden zu wenig dafür tut, sein entwendetes Stahlross wiederzufinden, greift John zur Selbsthilfe und quetscht den fisch- und schildkrötenliebenden Zeitungsverkäufer Alfie, der den Klau nach Johns Ansicht gesehen haben muss, aus. Alfie hat Angst, dirigiert John aber in Richtung des jugendlichen Tunichtguts Tommy Towers, der natürlich mit Händen und Füßen abstreitet, jemals ein Automobil widerrechtlich in Besitz genommen zu haben – um umgehend bei Alfie vorstellig zu werden und dem die Bude zu demolieren. Das bekommt wiederum John mit und alarmiert die Polizei, während Tommy sich bei seinem Boss, dem schmierigen Werkstattbesitzer Lionel Meadows ausheult. Meadows stattet Alfie einen weiteren Unanstandsbesuch ab und eliminiert als aller-allerletzte Warnung dessen Haustiere. Der alte Mann nimmt sich verzweifelt das Leben. Für John ist klar, dass Meadows hinter dem Diebstahl stecken muss und der ermittelnde Polizeiinspektor Thomas ist nicht abgeneigt, dieser Theorie Glauben zu schenken, möchte den Fall aber bevorzugt nach den Buchstaben des Gesetzes aufklären. Gesetze wiederum sind John schnurz, der will nur sein Auto wieder. Obwohl seine Frau Anne ihn zu überreden versucht, Karre Karre sein zu lassen, sieht John, mittlerweile auch seine Arbeitsstelle verlustig gegangen, in Tommy und dessen Freundin Jackie, die sich gezwungenermaßen von Meadows aushalten lässt, geeignete Ansatzpunkte. Tatsächlich gelingt es ihm, Jackie auf seine Seite zu ziehen, doch Meadows lässt sich die Butter nicht so leicht vom Brot nehmen, auch wenn dem aalglatten Autohändler die Kontrolle über sein Imperium zusehends entgleitet…


Inhalt

Mal was anderes auf diesen geheiligten Seiten. Mit „Der Marder von London“ stellt das Budget-DVD-Label MMP/AmCo in seiner „Classic Movie Collection“ einen weithin unbekannten britischen „Crime-Thriller“ aus dem Jahre 1960 vor, der ungeachtet seiner etwaigen tatsächlichen filmischen Qualitäten aus drei Gesichtspunkten interessant ist – Punkt 1 – Regisseur John Guillermin wurde in den 70er Jahren durch Filme wie „Flammendes Inferno“, „King Kong“ oder „Tod auf dem Nil“ zum A-Listen-Regisseur, verbrach mit „King Kong lebt“ und „Sheena – Königin des Dschungels“ aber auch zwei vielfältig gepriesene Trashgurken vom Allerfeinsten. Punkt 2: John Barry, späterer Hauskomponist der James-Bond-Reihe, legt hier nach zwei TV-Arbeiten seinen ersten Filmscore vor. Und, vor allem Punkt 3: Wir können Superkomödiant Peter Sellers in einer raren Schurkenrolle beobachten. Das macht den geneigten Filmgeek dann doch dezent neugierig und verleitet zur Dreieuroneunundneunzig-Investition in die Silberscheibe.

Man könnte nun gemeinhin denken, eine Story, die sich um Autoklauereien dreht (und streng genommen, da Meadows zwar einer organisierten Bande vorsteht, den Film aber selbst nur ein spezieller Fall interessiert, nur um EINE Autoklauerei), wäre nicht der Stoff, aus dem der große Nervenkitzel gestrickt ist (nein, und ich werde jetzt keine Querverbindungen zu hirnentleertem Oktankino wie „Gone in 60 Seconds“ – Remake, für Puristen – herstellen; zumal Autoklaufilme normalerweise aus der Perspektive der ausführenden Diebesleute geschildert werden, so auch z.B. „Tatort 911 – No Man’s Land“, den ich vor zwanzig Jahren oder so mal recht töfte fand), doch die von Alun Falconer zu Papier gebrachte Umsetzung der Story von John Guillermin und seinem Produzenten Peter de Sarigny vermag es durchaus, nach einem zugegeben etwas schwergängigen Beginn, zu fesseln. Fragt man sich nämlich zu Beginn schon, warum Cummings nun ob des Verlust seines fahrbaren Untersatzes gar so aus dem Leim geht, zeigt die Geschichte im weiteren Verlauf schlüssig auf, wieso Cummings‘ Handlungen aus seiner Sicht unvermeidbar und folgerichtig sind – nicht nur, dass ihm ganz real der Verlust seiner Existenz droht, fühlt er sich zunehmend, diesbezüglich auch durch einige unvorsichtig ausgesprochene Kommentare seiner Ehefrau, als notorischer Loser, dem nichts gelingen mag und der, vor allem, nie etwas zu Ende bringt, was er angefangen hat. Das soll ihm im Fall seines verlustig gegangenen Gefährts nicht auch wieder passieren, das braucht er einfach für sein Selbstwertgefühl. Seinem gekränkten Ego ist es daher auch egal, ob aufgrund seiner manischen Obsession, das Auto wiederzufinden, seine Familie zerbricht. Cummings wittert die Chance, aus seinem fremdbestimmten Dasein auszubrechen, die Kontrolle über sein eigenes Leben wiederzufinden, auch wenn es im Extremfall zu seinem Nachteil ist. Und hier findet sich auch der geschickte Kniff, um mit Meadows einen Gegenspieler einzubauen. Im Gegensatz zu Cummings hat Meadows, der fiese Autoknackerbandenchef, zu Filmbeginn alles im Griff – er ist ein Ordnungs- und Kontrollfreak. Und während Cummings hartnäckig nachbohrt, um Beweise gegen Meadows zu sammeln und dadurch seinem sinnentleerten, langweiligen Dasein einen Inhalt gibt, verliert Meadows zunehmend das, was ihm am wichtigsten ist – die Kontrolle über die Ereignisse (was auch optisch dadurch vermittelt wird, dass der glatte und geschniegelte Meadows sich zum Finale hin in eine unrasierte, heruntergekommene Karikatur seiner selbst verwandelt), was immer latent in ihm lauernde Brutalität und Sadismus zum Vorschein bringt. Ganz schön existentialistisch für einen ohne Rückendeckung eines großen Studios vermutlich ohne großes Budget unabhängig entstandenen kleinen Reißer. Und so schafft es der Film, trotz seines Pillepalle-Aufhängers eines unspektakulären Autodiebstahls, Spannung aufzubauen und den Zuschauer bei der Stange zu halten.

Filmisch beweist Guillermin, der 1960 zwar schon gut fünfzehn Filme auf dem Kerbholz hatte, mit 35 Jahren aber noch zu den Jungspunden zu zählen war, große Reife im Umgang mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, wobei ihm das Talent seiner Schlüssel-Mitarbeiter zweifellos nicht schadete. Editor Ralph Sheldon („Shanghai Surprise“) überrascht mit erstaunlich flotten, modern wirkenden Schnitten, Kameramann Christopher Challis („Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“, „Tschitti-Tschitti-Bäng-Bäng“, „Top Secret!“) zieht nicht nur maximalen Nutzen aus den abgefilmten unbekannteren Ecken Londons, sondern unterstreicht mit simplen, aber effektiven Mitteln die Atmosphäre des Films und die Ausprägng der Charaktere (ein besonders herausragendes Beispiel: Meadows macht Jackie zur Schnecke – wenn Meadows spricht, sehen wir ihn aus leichter Froschperspektive, wenn Jackie spricht, wird sie von oben mit der Kamera eingefangen, was das Abhängigkeitsverhältnis optisch unterstreicht). Das Tempo des Films ist flott, zum Ende hin sogar rasant (der Showdown ist höchst memorabel), das Manko vieler britischer Produktionen (die betulich wirkende Studioatmosphäre bei Innenaufnahmen) wird konsequent vermieden, trotz seiner „kleinen“ Geschichte wirkt der Streifen sehr kinematisch.

Die Musik von John Barry ist größtenteils lässig-jazzig-beschwingt, trägt ab und an vielleicht etwas zu dick auf, ist aber zweifellos sehr gut anhörbar.

Ausschweifende Brutalitäten sind bei einem über vierzig Jahre alten Krimi nicht zu erwarten – der Showdown sorgt zwar für einige Ruppigkeiten und stellt den Make-up-Künstlern die ein oder andere nette Aufgabe (und in einer Szene befürchte ich Schildkröten-Snuff). Carol White zieht einmal ihre Bluse aus (behält den BH aber an) und sorgt so für zweieinhalb Sekunden keimfreie Erotik.

Zu den Schauspielern – der britische Mime Richard Todd, der sich seit Beginn der 50er Jahre mit beachtlichem Erfolg als „leading man“ profilierte und u.a. „Rob Roy“ und „Robin Hood“ gab (und 1970 den obligaten Stint im Italo-Horror gab: „Das Bildnis des Dorian Gray“, die Version mit Helmut Berger), hatte das Image einer „stiff upper lip“, also eines etwas steifen Kleiderständers, nutzt gerade diesen Umstand zu einer guten Performance. Sein Charakter ist zu Beginn nämlich genau das, was man dem Schauspieler gelegentlich vorwarf – ein farblos-uninspirierter Langweiler, der sich im Verlauf der Geschichte aber dann eben zum emotionalen Kämpfer wandelt. Er verblasst aber natürlich gegenüber Peter Sellers, der, was Zuschauer, die ihn nur als Inspektor Clouseau kennen, ein wirklich überzeugendes sadistisch-brutales Dreckschwein gibt. Das ist teilweise von beängstigender Intensität, vor allem, weil Sellers den Charakter eben auch entwickeln kann, vom zurückhaltenden, vielleicht etwas schmierig-unsympathisch, aber nicht bösartig wirkenden Gebrauchtwagenverkäufer bis hin zum mordgierigen full-scale-Psychopathen. Ein weiterer Beweis dafür, dass Sellers nicht nur ein großartiger Komiker, sondern einfach ein großartiger Schauspieler war (und dem diese Rolle vielleicht sogar persönlich näher lag als die Komödien, für die er berühmt wurde).

Die sonstigen Darsteller sind gut, aber im Vergleich zu den Hauptakteuren in den Hintergrund gedrängt. Elizabeth Sellars (mit „The Mummy’s Shroud“ auch bei Hammer vorstellig geworden) hat als Cummings‘ Ehefrau zwei-drei gute Szenen, Adam Faith (Tommy Towers), der recht überzeugend den nervösen Jungautodieb spielt, errang in den 60er Jahren Ruhm und Ehre als Popsänger und ernstzunehmender Rivale für Cliff Richard, ehe er sich in den 70er Jahren hauptsächlich Bühnenarbeit zuwandte, Carol White (Jackie) spielte 1969 im Larry-Cohen-gescripteden Thriller „Daddy’s Gone-A-Hunting“ die Hauptrolle und war auch in Hammers Steinzeit-Hit „Prehistoric Women“ dabei.

Bildqualität: AmCos Vollbildtransfer ist leider etwas liederlich ausgefallen (ohne TV-Overscan ergibt sich sogar ein dezentes Letterbox, das dem Original-Bildformat entsprechen dürfte). Das Bild ist teilweise arg grobkörnig und unterliegt recht deutlichen Qualitätsschwankungen. Manche Sequenzen sind zu hell und wirken, wie aus einem anderen Master eingefügt. Darüber hinaus stören einige Mastering-Defekte das Sehvergnügen. Der Kontrast ist in Ordnung, ebenso die Kompression. Von einer Disc der 4-Euro-Preisklasse darf man wohl nicht mehr erwarten.

Tonqualität: Der Kunde kann zwischen deutschem und englischem Originalton (jeweils Dolby 2.0 Mono) wählen. Der deutsche Ton ist dabei der zu präferierende – der ist weitgehend rauschfrei und gut verständlich, die Musik ist teilweise etwas übersteuert. Der englische Ton ist viel zu leise und kann auch von der Sprachqualität nicht überzeugen.

Extras: Keinerlei Zusatzfeatures, aber Artwork und Aufmachung der DVD sind hübsch.

Fazit: „Der Marder von London“ (im Original viel treffender und eleganter „Never Let Go“ betitelt) ist ein überraschend packender kleiner Thriller, der nicht nur von seinem psychologisch clever gestrickten Script, seiner für 1960 modernen Machart, sondern hauptsächlich von seinen darstellerischen Leistungen, und da eben vor allem denen von Peter Sellers, lebt und für Freunde klassischen Krimikintopps durchaus eine Sünde wert ist. Sicherlich kein großer Klassiker, aber allemal sehenswert – die DVD könnte deutlich besser sein, ist aber dafür zumindest billig.

4/5
(c) 2004 Dr. Acula


mm
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