Bowling for Columbine

 
  • Deutscher Titel: Bowling for Columbine
  • Original-Titel: Bowling for Columbine
  •  
  • Regie: Michael Moore
  • Land: USA/Kanada
  • Jahr: 2002
  • Darsteller:

    Michael Moore
    Charlton Heston
    Dick Clark
    Matt Stone
    Marilyn Manson
    Arthur A. Busch
    John Nichols
    Barry Galsser
    Chris Rock (Archiv-Aufnahmen)
    George W. Bush (Archiv-Aufnahmen))


Vorwort

Mal was ganz anderes… nicht nur behandelt dieses Review einen Film, der eigentlich wirklich überhaupt nicht auf diese Seiten gehört, zweitens ist´s dann noch ein Streifen, der gerade (Dez. 2002) im Kino läuft und drittens ist es (voraussichtlich) zur Abwechslung mal richtig schön kurz… (kommt natürlich auch daher, dass es sich im Kino schlecht mitschreibt). Aber der Film ist mir persönlich zu wichtig, um ihn mit einem Kurz-Review unter den Bits abzuspeisen.

Okay, falls Ihr die letzten Wochen irgendwo in einem Atombunker ohne Fernsehen und Zeitung zugebracht habt – der mit erstaunlichem Media-Hype (keine Nachrichten- oder Kultursendung und kein Feuilleton kam ohne ausführliche Berichterstattung aus) gestartete Film ist Werk von Michael Moore, Amerikas populärstem Nestbeschmutzer. Moore, Prototyp des „leftist liberal“ und damit DAS Feindbild der Republikaner schlechthin, piesackt seit seinem vielfach prämierten Doku-Film Roger & Me, das filmisch die Schliessung eines GM-Werks in Flint, Michigan, und die Auswirkungen dieses Acts auf die Stadt skizzierte, die ruling class mit bösen, zynischen, sarkastischen, meist hoch unterhaltsamen subjektiven Artikeln und Büchern (das neueste, Stupid White Men, führt auch hierzulande die Bestsellerlisten an). Bowling for Columbine ist nicht, wie manchmal verkürzt dargestellt, eine filmische Aufarbeitung des Massakers an der Columbine High School, Columbine, das 1999 um die Welt ging (tja, bis „wir“ mit Erfurt den Rekord brachen…), sondern nutzt dieses Ereignis als Aufhänger für die generelle Frage, wieso ausgerechnet die Amerikaner das Volk auf Gottes Erdboden ist, das sich statistisch am häufigsten mit Schusswaffen gegenseitig das Lebenslicht ausbläst.


Inhalt

An einem ganz normalen Tag, an dem Farmer ihre Felder bestellen, Eltern ihre Kinder zur Schule bringen und „wir Amerikaner mal wieder ein Land bombadieren, dessen Namen wir nicht aussprechen können“, gehen zwei Schüler der Columbine High School früh morgens zum Bowling, spielen ein paar Frames, gehen danach in die Schule und töten zwölf Mitschüler und eine Lehrkraft, bevor sie sich selbst umbringen.

Wie kann es dazu kommen? Nun, in einem Land, in dem es Banken gibt, die bei Kontoeröffnung ihren Neukunden ein Gewehr aushändigen (Moore fragt einen Bankangestellten: „Do you really think it´s clever to hand out guns in a bank?“ Good point.), ist vermutlich von Haus aus alles möglich.

Moore schlägt den Bogen von Littleton, einem Vorort von Denver, Colorado, in seinen Heimatstaat Michigan, denn da verbrachten die Killer von Columbine einen Teil ihrer Jugend. Er interviewt einige der perspektivlosen Kids vor Ort zu ihren Erfahrungen mit Waffen (jeder hat welche…). Michigan ist auch die Heimat der „Michigan Militiä, einer Bürgerwehr, die es als ihre gottverdammte Bürgerpflicht ansieht, sich zu bewaffnen, um bereit zu stehen, falls die Freiheit der Nation Under God bedroht wird und die ihre Kampfbereitschaft dem Filmemacher nur zu gerne demonstriert. In den Dunstkreis der Michigan Militia sind aber auch die Oklahoma-City-Bomber Timothy McVeigh und Terry Nichols zu zählen. Ebenfalls nach dem verheerenden Terrorakt festgenommen, aber mangels Beweisen freigelassen, wurde Nichols Bruder John, den Moore ebenfalls interviewt. Nichols kehrt die auch von McVeigh im Prozessverlauf geäusserte Theorie hervor, wonach Bürger, wenn ihre Regierung korrupt sei, zum Umsturz verpflichtet sei. Moore konfrontiert Nichols mit dem Beispiel Gandhis und des gewaltlosen Widerstandes. Antwort Nichols: „I am not aware of that“. Sic. Eine kitzlige Situation: Nichols führt Moore in seinem Schlafzimmer seine geladene Magnum vor und hält sie sich spasseshalber an den Kopf…

Immer wieder kehrt der Film zu Columbine und Littleton zurück – Moore fragt nach Zusammenhängen zwischen dem Massaker und der Tatsache, dass in Littleton der weltgrösste Waffenbauer Lockheed Martin sein Stammwerk hat und zeigt Bilder der zehn Tage nach dem Blutbad veranstalteten Waffenshow in Denver, die NRA (National Rifle Association, Verband der Schusswaffenbesitzer)-Präsident Charlton Heston zu einer leidenschaftlichen Pro-Waffen-Rede nutzt, aber auch von der von Angehörigen der Columbine-Opfer mitorganisierten Gegendemo.

Dann lässt Moore Bilder und O-Töne sprechen: Während minutenlang Original-Bilder der Überwachungskameras aus Columbine laufen (Snuff-Anhänger: keinerlei Mordbilder, nur der Vollständigkeit halber), spielt die Tonspur Originalaufnahmen der Notrufleitungen von Littletons Polizei ab. Neben panischen Anrufen aus der Schule und besorgten Angehörigen bietet sich das perfide Spiel, dass die grossen Fernsehnachrichtenstationen wie CNN, Fox etc. die Notrufleitungen blockieren, um Live-Interviews zu erhaschen und, wie im Falle einer gewissen Wendy von CNN, in ein weinerliches „Fox hat jemanden gekriegt“ zu blöken, als die Operatorin sie mit dem Verweis auf dringlichere Geschäfte abbürstet. True life horror, und definitiv intensiver als alles, was sich die krankhafteste Fantasie erdenken kann.

Die Frage bleibt – was war der Auslöser für die Mordtat? Für einige Experten war die knappe Antwort: „Marilyn Manson“. Moore spricht mit dem Rockstar vor einem Konzert – Manson erweist sich als eloquenter und intelligenter Gesprächspartner, lehnt selbstredend Verantwortlichkeit ab: „I´m just easy to pick on.“

Moore nutzt die Gelegenheit für einen anderen Approach – ein Meisterwerk des zynischen Humors ist die vielleicht fünfminütige Zeichentricksequenz, in der eine Gewehrkugel die blutige Geschichte Amerikas im besten South-Park-Stil moderiert (ich hab extra im Nachspann gekuckt, ob nicht vielleicht Matt Stone und Trey Parker dafür verantwortlich waren…). Langsam kommen wir zum „meat“ der Geschichte – harter Medienschelte. Moore weist im Zusammenhang mit einigen Interviews darauf hin, dass die amerikanischen Fernsehsender in ihren Nachrichten hauptsächlich Furcht & Schrecken ob der Gewalt „da draussen“ verbreiten, obwohl die Verbrechensraten allgemein zurückgehen und vergisst nicht auf die eindimensionale stereotype Darstellung des „grossen schwarzen Mannes“ als ultimativem „boogeyman“ hinzuweisen (recht lustig gerät dabei das Interview mit dem Produzenten der TV-Show „COPS“, die dieses Klischee kräftig ausschlachtet). Ein Blick über die Grenze nach Kanada – ein Land, das nahezu genauso schusswaffenfanatisch ist wie die USA, aber nur ein winziges Bruchteil an Gewalttaten aufweist – verblüfft stellt Moore fest und korrigiert gängige Vorurteile, dass es auch in Kanada ethnische Minderheiten gibt, es genauso Leute gibt, die fünf oder sechs Knarren ihr Eigen nennen und trotzdem niemand, nicht einmal in der 400.000-Einwohner-Metropole Windsor, direkt gegenüber von Detroit, seine Haustür abschliesst (Moore macht die Probe aufs Exempel). Selbst den dortigen Polizeichefs fällt es schwer, sich an Morde zu erinnern. Moore begründet dies teilweise mit der Qualität der kanadischen Fernsehnachrichten (eine gewagte Theorie, sicherlich).

Wir kommen wieder zurück in die USA. Nachdem wir eine weitere Downer-Sequenz über uns ergehen lassen, in der zu den süsslichen Klängen von Louis Armstrongs „Wonderful World“ Bilder und Einblendungen über eine Auswahl der von den USA via ihrer Geheimdienste oder Armeen angezettelten Kriege, Bürgerkriege oder Umstürze gezeigt werden, kehrt Moore zurück in seinen Heimatort Flint, die weitere traurige Berühmtheit erlangte, als ein sechsjährige Erstklässler in der Schule eine Klassenkameradin erschoss. Moore ergründet den sozialen Hintergrund des Falles: alleinerziehende Mutter, vom hochgelobten (auch von Schmalspurpolitikern wie Lügenbold Roland „brutalstmöglicher Aufklärer“ Koch) „Work-for-Welfare“-Programm dazu gezwungen, siebzig Wochenstunden zu arbeiten, um dann doch nicht die Miete bezahlen zu können (nicht ohne darauf hinzuweisen, dass ironischerweise ausgerechnet Lockheed Martin mit der Organisation dieses Programms beauftragt wurde…). Flints Sheriff, of all people, denunziert das Programm dann auch unverblümt als so ziemlich den grössten Mist, den er je gesehen hätte. Und wieder dabei: Charlton Heston, wie 4711… einen Tag nach der Bluttat hält er zusammen mit Vizepräsident Dick Cheney eine weitere NRA-Rally ab.

Moore trifft sich mit zwei Überlebenden aus Columbine und konfrontiert die K-Mart-Zentrale (die Munition, die die Columbine-Killer verwendeten, stammte aus K-Mart-Läden) und fragt dort nach, ob man nicht den Munitionsverkauf einschränken oder einstellen könne. Nachdem die Gruppe beim ersten Anlauf ziemlich dumm stehen gelassen wird, kehren sie am nächsten Tag – mit einem Medienaufgebot im Rücken – zurück und ringen K-Mart das Eingeständnis ab, binnen 90 Tagen den Verkauf von Munition einzustellen.

Nur noch eins zu tun, denkt sich Moore, und besucht Charlton Heston in seiner Villa in Beverly Hills. Tatsächlich lässt sich Heston auf ein Interview ein und salbadert auf Moores Fragen, was seiner Ansicht nach für die Killwütigkeit der Amerikaner verantwortlich ist, blödsinniges wie „ethnic diversity“ und „blutige Geschichte“ daher. Als Moore Heston fragt, ob es denn clever gewesen sei, am Tag nach dem Flint-Mord dort eine NRA-Veranstaltung abzuhalten und er sich vielleicht für diese Taktlosigkeit bei den Menschen von Flint entschuldigen wolle, bricht Heston, höflich zwar, aber immerhin, das Interview ab und will sich auch nicht das von Moore mitgebrachte Bild des Opfers ansehen, das ein frustrierter Moore dann literally auf Hestons Türschwelle ablegt und „zurück in die reale Welt“ geht…
Analyse

Ihr seht schon, eine radikale Verkürzung des zweistündigen, nie langweiligen, Dokumentarfilms, der viele Fragen aufwirft, aber – zugegeben – keine zufriedenstellend beantworten kann. Aber das ist auch nicht der Punkt – wer erwartet, von Bowling for Columbine (der Name bezieht sich darauf, dass nach dem Columbine-Massaker alles und jeder für die Bluttat verantwortlich gemacht wurde, aber nicht Bowling, der „Lieblingssport“ der Killer) die ultimative Aufklärung zu erhalten, lebt vermutlich in einem Elfenbeinturm. Das kann ein Film nicht leisten. Was er aber leisten kann, ist Fragen aufzuwerfen und Hinweise, Indizien, Fakten zu liefern.

Kritiker wie mein konservativer Kollege Ken Begg von Jabootu werfen Moore vor, er würde manipulieren. Tja, eh, was soll ich sagen… natürlich ist Moore und mithin auch sein Film manipulativ – er muss es sein. Jede Dokumentation, die über das blosse Abbilden von Fakten hinausgeht (bösartigerweise könnte ich sagen, dass damit der Terminus „Dokumentation“ schon nicht mehr zutreffend wäre), sondern ein Anliegen hat, ein „issue“, muss manipulativ sein – damit sie funktioniert. Schliesslich hat Moore eine Agenda – und man kann kaum von ihm erwarten, dass er im Zuge seiner Recherchen einen 180DEG-Schwenk erlebt und auf NRA-Linie einpegelt… Moore räumt faktisch den „gunnuts“ um Heston mehr screentime ein als deren Gegnern, so dass sich eigentlich niemand beschweren kann, Moore würde nicht auch der „anderen Seite“ die Möglichkeit bieten, sich zu äussern. Was kann Moore dafür, wenn sich die Waffenliebhaber mit idiotischen Statements wie „Bürgerwehr ist Bürgerpflicht“ und/oder schlichtem Zurückziehen auf „die Verfassung erlaubt es, also mach ich es“ selbst als geistige Tiefflieger outen? Auch dringt Moore nicht „einfach ungefragt und illegal“ auf Hestons Anwesen vor, wie manch Liberalenfresser behauptet, sondern klingelt einfach an Hestons Tür, was schwerlich ein illegaler Akt ist, und erhält von diesem einen Interviewtermin für den nächsten Tag. Schon höchst verwerflich.

Letztendlich hat natürlich auch Moore keine definitiven Antworten, und die Vorschläge, die er bringt, sind nicht wirklich neu – ständige Gewaltbilder in den Medien, soziale Kälte und Perspektivlosigkeit, Raubtierkapitalismusmentalität, Anpassungsdruck (wie ein Ex-Columbine-Schüler ausführt, ist es sicherlich nicht sehr motivierend, einem Sechstklässler zu verklickern, wenn er die Aufnahmeprüfung zur siebten Klasse nicht besteht, wird er arm in der Gosse sterben) – das ist sicher Wasser auf die (Gebets-)Mühlen eines jeden Attac-Mitglieds – das sind sicher alles gültige Punkte, aber diese allein können wohl nicht erklären, warum das Risiko relativ gesehen in den USA dreissigmal höher ist als in Deutschland, einem mit Schusswaffe verübten Mordfall zum Opfer zu fallen. So ist man nach dem Film nicht unbedingt klüger geworden, aber vielleicht ein wenig weiser (das muss sich ja nicht ausschliessen) – auf jeden Fall bietet der Streifen einen ungeschönten Blick auf amerikanische Realitäten, und, wenn man sich Vorfälle wie in Bad Reichenhall oder Erfurt vor Augen hält, so ganz weit weg sind wir ja auch nicht davon. Sicherlich ist nicht alles übertragbar, aber Denkanstösse kann Bowling for Columbine auch für den hiesigen Alltag vermitteln.

Vom filmtechnischen Standpunkt ist Bowling for Columbine durchaus überzeugend – der Narrative ist fliessend, wenngleich man darüber streiten kann, ob die Abschweifungen zum latenten Rassismus oder nach Kanada absolut nötig wären, aber sie runden das Bild ab. Der Soundtrack spielt sparsam passende (oder extrem unpassende, und daher umso wirkungsvollere) Songs (und die Punk-Version von „Wonderful World“ zum Abspann ist ein Hammer), der Schnitt ist – wie erwähnt – bewusst manipulativ, wenn Archivaufnahmen unter Interviewstatements o.ä. gelegt werden.

Bowling for Columbine ist der seltene Fall eines Dokumentarfilms, der trotz seiner Laufzeit von über zwei Stunden keine Sekunde langweilt, trotz des eigentlichen depressiv stimmenden Themas immer wieder zum Lachen anregt (auch wenn einem der Lacher ab und an eigentlich im Halse steckenbleiben sollte), wenn es sein muss schockiert und, meiner bescheidenen Meinung nach, jedem Menschen in diesem unserem Lande (und in den USA selbstredend auch, wo der Film, wie´s kaum anders sein kann, nicht mal einen ordentlichen Verleih gefunden hat) zwangsvorgeführt werden sollte (und ganz besonders vielen Leuten, die im politischen Spektrum rechts von der Mitte einzustufen sind).

Vielleicht der wichtigste Film des Jahres, auf jeden Fall einer der unterhaltsamsten, trotz der Thematik. Pflicht-Kinobesuch!

(c) 2002 Dr. Acula


BOMBEN-Skala: 0

BIER-Skala: 7


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