Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer

 
  • Deutscher Titel: Atanarjuat - Die Legende vom schnellen Läufer
  • Original-Titel: Atanarjuat
  •  
  • Regie: Zacharias Kunuk
  • Land: Kanada
  • Jahr: 2000
  • Darsteller:

    Natar Ungalaaq (Atanarjuat), Sylvia Ivalu (Atuat), Peter-Henry Arnatsiaq (Oki), Lucy Tulugarjuk (Puja), Madeline Ivalu (Panikpak), Pauloosie Qulitalik (Qulitalik), Eugene Ipkarnak (Sauri), Pakak Innuksuk (Amaqjuaq), Neeve Irngaut (Uluriaq), Abraham Ulayuruluk (Tungajuaq)


Vorwort

Das Böse manifestiert sich in der Inuit-Siedlung Igloolik – dem machthungrigen Sauri gelingt es mit Hilfe eines fremden Schamanen, den Stammesführer abzumurksen und seine Stellung einzunehmen. Ausbaden muss es die Sippe seines Rivalen Tulimaq, die zu sozialen Außenseitern stigmatisiert wird. Nur Sauris Mutter Panikpak unterstützt Tulimaq und dessen beiden Söhne, auf die sie große Hoffnungen zur Wiederherstellung des Friedens setzt. Jahre später sind Tulimaqs Sprößlinge Amaqjuaq und Atanarjuat echte Männer geworden, die ständig im Clinch mit Sauris Sohn Oki liegen. Den stört ganz besonders, dass Atanarjuat ein Auge auf die ihm versprochene Atuat geworfen hat. Oki fordert Atanarjuat zum rituellen Kampf – böse und gute Geister werden von den jeweiligen Fraktionen zu Hilfe gerufen, wobei die Guten sich für den Moment als überlegen erweisen. Atanarjuat gewinnt und die Siegprämie ist Atuat. Atanarjuat, Amaqjuaq und deren jeweilige Frauen trennen sich von Sauris Sippe – so könnte alles Friede Freude Eierkuchen sein, aber Oki ist nachtragend. Als Atuat aufgrund akuter Schwangerschaft Atanarjuat nicht zur Karibujagd begleiten kann, drängt Oki dem alten Kontrahenten seine Schwester Puja als Jagdhelferin auf, wohl wissen, dass Atanarjuat nicht abgeneigt ist, auch bei ihr zu landen. Tatsächlich gelingt es Puja ohne weiteres, Atanarjuat zu becircen und zu seiner offiziellen Zweitfrau zu werden. Wie nicht anders zu erwarten, stiftet Puja schnell Unfrieden in ihrer neuen Familie und verführt, was ein ganz böses Tabu ist, Amaqjuaq. Atanarjuat verstößt Puja und ist auf seinen Bruder herzlich böse. Oki schmiedet einen teuflischen Plan – Puja kehrt zu Atanarjuats Sippe zurück, bittet um Verzeihung und wird wieder aufgenommen, doch ist dies für sie natürlich nur ein Vorwand, um Atanarjuat an Oki zu verraten. Oki und zwei seiner Kumpel greifen an, können jedoch nur Amaqjuaq töten. Atanarjuat flieht nackt und barfuss über’s Eis und wird von Panikpaks Bruder Quilitalik, einem mächtigen Schamanen gefunden und gesundgepflegt. Während Atuat unter Okis Fuchtel nichts zu lachen hat und Oki, weil Sauri ihn das Mädel nicht heiraten lässt, seinen Vater kurzerhand umbringt, bereitet Quilitalik Atanarjuat spiritistisch auf sein großes Comeback vor…


Inhalt

Hrrfz, mich juckt’s in den Fingern, ich muss den Oblaten-Joke gleich zu Beginn bringen – es ist verdammt hart, fast drei Stunden lang Dialogen zuzuhören, die den geneigten Konsumenten zu der Schlußfolgerung bringen, dass Hape Kerkeling mit seinem „Wiegenlied der grönländischen Eskimofrau“ gar nicht so unauthentisch war…

„Atanarjuat“ ist, filmhistorisch betrachtet, durchaus ein wichtiger Film, handelt es sich doch um den ersten abendfüllenden Spielfilm, der von einer (bis auf wenige Ausnahmen) reinen Inuit-Crew mit einem reinen Inuit-Cast auf Inukit, der Sprache der arktischen Ureinwohner, gedreht wurde. Das ist prinzipiell löblich und wird von mir moralisch durchaus unterstützt, die Frage bleibt jedoch, ob man sich den Streifen als Nicht-Inuit unbedingt ansehen muss. Wie so oft beantworte ich dies mir selbst mit einem entschiedenen „Jein“.

Das Drehbuch zu „Atanarjuat“ basiert auf einer alten Inuit-Legende, die in einem mühseligen Prozess aus einer Vielzahl verschiedener mündlich überlieferter Varianten (die Inuit kennen keine Schriftsprache) zu der hier vorliegenden „Endfassung“ destilliert wurde. Erfreulicherweise wird die Überlieferung im Bonusmaterial in groben Zügen dargelegt, so dass einiges, was in der Filmfassung einem Nicht-Inuit möglicherweise verschlossen bleibt, zumindest einigermaßen geklärt wird. Die Filmversion verzichtet nämlich, was einerseits schade, andererseits aber wohl auch dem beschränkten Budget und der mangelnden Expertise der technischen Crew geschuldet ist, auf bildhafte Umsetzung der in der Original-Legende in vielfältiger Form ins Geschehen eingreifenden guten und bösen Geister – die übernatürlichen Ereignisse der Story bleiben in der Filmfassung zwar als Plotpunkte vorhanden, als Zuschauer muss man die sich aber schon selbst zusammenreimen (man kann dem Film zwar notfalls durchaus folgen, wenn man die Eingriffe der Geisterwelt nicht als solche erkennt, wird aber ab und zu ein „what the f…?“ in seinen Bart murmeln).

Die Geschichte selbst ist ein durchaus kraftvolles Drama um Verantwortung, Verrat, Schuld und Verzeihen – die Legende, die natürlich dem alltäglichen Überlebenskampf in der Arktis entspringt, soll versinnbildlichen, dass in einer lebensfeindlichen Umgebung, wie sie Eis und Tundra nun mal darstellen, der Zusammenhalt einer Gemeinschaft das Nonplusultra, der um beinahe jeden Preis her- bzw. wiederzustellende Idealzustand ist, dem der Einzelne sich auch bei etwaig abweichenden persönlichen Wünschen unterordnen muss, wobei interessanterweise beide Hauptfiguren, sowohl der „Held“ Atanarjuat als auch sein Widerpart Oki als Egoisten gezeichnet werden. Bei Oki liegt die Sache einfach – er (wenn gleich unter dem Fluch des bösen Schamanen handelnd) hat den Machthunger seines (allerdings deutlich gemäßigteren) Vaters geerbt und stellt seine persönlichen Macht- und Besitzansprüche über das Wohl seiner Gefährten. Atanarjuat auf der anderen Seite wird uns als unbekümmert in den Tag lebender Sorgloser vorgestellt, der kaum einen Gedanken auf den Zusammenhalt der Gemeinschaft verschwendet (was man ihm insofern nicht verübeln kann, als seine Familie von eben dieser Gemeinschaft miserabel behandelt wurde), dessen sexueller Egoismus gleich zweimal für Ungemach sorgt. Dadurch, dass er die schon vergebene Atuat begehrt, macht er Oki zu seinem erklärten Feind und spaltet damit effektiv den Clan, als er später darüber hinaus noch Puja ehelicht, zerstört er damit seine eigene Familie und ist letztlich zumindest teilverantwortlich für den Tod seines Bruders. (SPOILER) Erst, als Atanarjuat unter Quilitaliks spiritueller Fuchtel erkennt, dass er die Verantwortung für sein Tun und Handeln übernehmen muss, kann er den Kreislauf der Gewalt durchbrechen, das Böse vertreiben und der Gemeinschaft den ersehnten Frieden wiederbringen (SPOILERENDE).

Wie gesagt, das ist allemal ein plausibles Thema für einen Film und wäre es rein grundsätzlich auch hier. „Wäre“. Wenn der Film, pardon my french, nicht einfach elendiglich lang wäre. Von den fast drei Stunden ist *mindestens* eine deutlich zuviel, um einen Zuschauer, dem’s nun nicht primär darum geht, Randgruppen des World Cinema zu fördern, sondern hauptsächlich einen interessanten Film sehen will, zu packen. Zacharias Kunuk, dem Regisseur des Streifens, geht’s nämlich nicht nur ums Geschichtenerzählen an sich, vielmehr und vermutlich primär um eine authentische Darstellung der Inuit-Lebensweise, bevor der weiße Mann diese Kultur, wie so viele Naturvölker-Kulturen, beinahe ausrottete. Kunuk ist zum Schaden des Films dahingehend ein Pedant – es mag aus anthropologischer, kulturgeschichtlicher und soziologischer Sicht durchaus faszinierend sein, dass Kunuk viel Energie darauf verwandte, sowohl Sitten und Gebräuche als auch Requisiten und Kulissen hundertzehnprozentig korrekt aussehen zu lassen, aber es tut der Geschichte nicht gut. Wenn man so will, wird man aus der Story des Films immer wieder für langwierige dokumentarische Abschweifungen z.B. zum korrekten Abschaben von Fleischresten aus Fellen etc. herausgerissen (oder umgekehrt). Salopp gesagt ist das „Discovery Channel“ mit Handlung und das vorhersehbare Ende vom Lied ist halt dann zwangsläufig, dass weder der dokumentarische noch der erzählerische Ansatz befriedigend aufgelöst werden. Das mag Kunuk unter Umständen sogar wurscht sein, denn, wie sich dem Begleitmaterial entnehmen lässt, sehen er und seine Mitstreiter als einen der herausragenden Erfolge des Films an, dass die traditionelle Lebensweise der Inuit wieder ins Bewusstsein dieser Volksgruppe geraten ist und die althergebrachten handwerklichen Fähigkeiten neu entdeckt werden. Sicherlich auch ein sehr positiver Begleiteffekt, der aber für den Filmgenuss relativ wenig bringt.

Filmisch ist das ganze relativ bieder gehalten – Kunuk ist ein Autodidakt, der von sich behauptet, das einzige „Filmemachertraining“, das er erhalten habe, sei, dass man ihm gezeigt habe, wie man die Batterie an der Kamera auswechselt. Ich will nicht despektierlich klingen, aber über weite Strecken sieht man das auch… Kunuk verlässt sich darauf, dass sein halbdokumentarischer Ansatz im Zusammenspiel mit der fraglos eindrucksvollen (wenn auch eher leeren) Naturkulisse der Territories genügen. Von den filmischen Mitteln regieren lange, statische Einstellungen und inflationäre close-ups. Wenn mal ein Zoom eingesetzt wird, was selten genug geschieht, ist das arg rumpelig (geschossen wurde auf Betacam, später der ganze Kram auf 35 mm kopiert), eine bewegte, dynamische Kamera gibt’s nur selten. Das ist durchaus dem Thema und der arktischen Weite und Einsamkeit angemessen, aber visuell nicht wirklich sonderlich befriedigend, vor allem, *draufrumreit*, wenn man dafür fast drei Stunden Lebenszeit einsetzt.

Positiv zu erwähnen ist die Filmmusik, selbstredend auch authentisch-traditionell, die World-Music-Fans begeistern dürfte.

Das Ensemble setzt sich aus erfahrenen Profis (die hauptsächlich für die kleine Inuit-Fernsehproduktion arbeiten) und Laien zusammen. Diejenigen mit Screenerfahrung ziehen sich durch die Bank recht gut aus der Affäre. Ungalaaq in der Titelrolle hat eine starke likeability, eine sehr sympathische und doch natürliche Ausstrahlung und überzeugt vor allen in den Szenen mit seinem Filmbruder Innuksuk. Arnatsiaq als sein Gegenspieler Oki ist einer der besseren „Amateure“ im Cast. Bei einigen seiner unerfahrenen Kollegen wird aber schon deutlich, dass sie nicht wirklich für ’nen Eimer Walfischtran spielen können… Da’s aber auch verdammt schwer ist, die schauspielerische Leistung zu beurteilen, wenn man von Inukit nicht wirklich ’ne Ahnung hat, will ich nicht zu streng richten.

Bildqualität: Sunfilm legt den Film in anamorphem 1.85:1-Widescreen vor. Überraschend für einen auf Video gedrehten und nicht gar so alten Film weist der Print doch überdurchschnittlich viele Defekte und Artefakte auf, was mich spekulieren lässt, dass das zugrundeliegende Master wohl schon als Festival-Kopie durch zahlreiche Filmprojektoren geschleust wurde. Abgesehen davon ist das Bild recht gut, mit zufriedenstellender Schärfe, guten Farben (auch wenn das Farbspektrum naturgemäß etwas eingeschränkt ist), gutem Kontrast und mittelmäßiger Kompression.

Tonqualität: Eine Synchronisation hat man sich gespart – der Film kommt in Inukit mit deutschen Untertiteln (die manchmal etwas wegzulassen scheinen) in Dolby 5.1. Selbstredend ist der Film kein Effektgewitter, es ist ein auch, äh, bildlich gesprochen leiser Film mit sparsamen Dialogen, dezentem Musikeinsatz und ohne jegliche Soundeffekte. Klar und rauschfrei ist die Spur allemal.

Extras: Sunfilm spendiert dem Film immerhin ein 2-Disc-Treatment, dafür ist’s aber schon arg mager, was an Bonusmaterial mitgeliefert wird. Auf Disc 1 findet sich ein „Fact Track“, eine zusätzliche Untertitelspur, die in Dialogpausen allerlei mehr oder weniger wissenswertes über die Produktion beisteuert, seien es dringend notwendige Informationen über die Beziehungen der Charaktere untereinander, über die Schauspieler, die Crew, die Produktionsbedingungen usw. Gut gemeint, lenkt aber auf die Dauer natürlich ab. Zum Lachen brachte mich dieser Track allerdings, als er ohne rot zu werden, den Film als „Action-Thriller“ einstufte… Auf Disc 2 gibt’s angesprochene „Legende“ von Atanarjuat zum Nachlesen, ein „Produktionstagebuch“ in Texttafelform mit einigen Hintergrundinformationen, ein paar audio snippets von Ungalaaq, Sylvia Ivalu und Kunuk sowie zwei Minuten „behind the scenes“, die man aber auch schon vollständig im Nachspann des Films bewundern konnte. Eine kurze Fotogalerie und der Originaltrailer schließen das Zusatzmaterial auch schon wieder ab. Das ist nicht viel für ’ne zweite Scheibe… Kompression her oder hin, der Kram hätte problemlos auch noch auf Disc 1 gepasst…

Fazit: Wie so oft bei Vertretern des eher exotischen „Weltkinos“ ist das Urteil zwiespältig – man möchte den Filmemachern nicht zu nahe treten, weil sie fraglos unter extremen Bedingungen ihr Bestes gegeben haben (oder es zumindest glauben) und auch meinen, etwas WICHTIGES zu tun, aber auf der anderen Seite sind ihre filmischen Ergüsse oft einfach nicht publikumskompatibel. „Atanarjuat“ macht da keine Ausnahme. Für die Inuit selbst mag der Film aus mancherlei Gründen extrem wichtig sein – wenn er diesem Volk hilft, die eigene verlorene Kultur wiederzufinden, ist das fraglos wunderbar, aber als Nicht-Inuit ist mir das einfach zu dröge. Gestrafft auf 100 Minuten würde ich den Film dank seiner im Grunde durchaus zeitlosen und emotional berührenden Story vermutlich empfehlen, aber durch die 168 Minuten, die der Streifen nun mal dauert, musste ich mich durchquälen (und den ein oder anderen Block habe ich, zugegeben, auch nur im schnellen Vorlauf ertragen. Bei 2xSpeed kann man ja die Untertitel immer noch bequem lesen). Die Baskenmützen-Fraktion, stets bereit, etwas abzufeiern, was kein normaler Mensch bei klarem Verstand sehen will, mag den Film meinetwegen, wie tatsächlich geschehen, als „Meisterwerk“ voller „atemloser Spannung“ und „grandioser Bilder“ abfeiern, mir persönlich kann man mit dieser unbeholfenen Mixtur aus Dokumentation und Spielfilm nicht kommen. Entweder oder, ist meine Devise, und nach der ist „Atanarjuat“ leider durchgefallen.

2/5
(c) 2006 Dr. Acula


mm
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