Amer

 
  • Deutscher Titel: Amer
  • Original-Titel: Amer
  •  
  • Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani
  • Land: Frankreich/Belgien
  • Jahr: 2009
  • Darsteller:

    Marie Bos (Ana als Erwachsene), Charlotte Eugène Guibeaud (Ana als Teenager), Cassandra Forêt (Ana als Kind), Bianca Maria D’Amato (Mutter), Harry Cleven (Taxifahrer), Delphine Bruel (Graziella), Jean-Michel Vovk (Vater), Bernard Marbaix (Großvater)


Vorwort

Drei Stationen aus dem Leben einer Frau:

„Ana als Kind“ – Die kleine Ana lebt mit ihren Eltern und Großelten in einer gothischen Villa. Ana hat Angst vor ihrer Großmutter (auch ihre Mutter ist von der Anwesenheit der alten Schachtel nicht begeistert), die in ihrem Zimmer offenbar hexenmäßig Tränke und Pulver pantscht und hinter einem Vorhang Opas aufgebahrte Leiche verbirgt. Neugier ist stärker als die Angst und Ana startet eine nächtliche Erkundung der Hexenkemenate. In Opas toten Krallen entdeckt sie ein Medaillon und stiehlt es, doch dieser Akt schändlicher Jugendkriminalität erweckt den verblichen Oheim zum Leben…

„Ana als Teenager“ – Mit ihrer Mutter geht Ana, aus der ein ausnehmend aufreizender Backfisch geworden ist, zum Einkaufen in die nächste Stadt und sieht sich den an- bzw. auszüglichen Blicken der männlichen Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Mutter schickt sie zum Ballspielen mit einem Knaben, doch Ana ist interessierter daran, einer vorbeiziehenden Rockergruppe zu gefallen…

„Ana als Erwachsene“ – Nach Jahren (plus einer bemerkenswerten Taxifahrt) kehrt Ana in die mittlerweile verlassene und herunterkommene Familienvilla zurück. Nach Erkundung des Gemäuers und einem erfrischenden Entspannungsbad muss sie feststellen, dass sie wider Erwarten nicht allein ist – ein schwarz behandschuhter Killer schleicht durch die Nacht…


Inhalt

Das wird jetzt eins der schwierigeren Reviews meiner Laufbahn, denn „Amer“, zusammen mit Rubber als einer der „polarisierenden“ Filme des diesjährigen FFF-Jahrgangs angekündigt, entzieht sich weitestgehend jeder sinnvoll strukturierten Analyse. Hélène Cattet und Bruno Forzani, Co-Autoren und -Regisseure des Streifens (der mit allerdings tödlicher Sicherheit das mit Abstand schönste Filmposter des Festivals zu bieten hat – mit ebenso tödlicher Präzision hat das Poster aber wiederum praktisch nichts mit dem Film zu tun), haben in ihrem ersten abendfüllenden Film (und wieder nicht im „Fresh Blood“-Wettbewerb. Zefix) sicher alles andere im Sinn als einen Thriller, der sich konventionellen narrativen Strukturen unterordnet.

Womit ich gleich einmal mit einem Missverständnis aufräumen will – vielfältigerweise habe ich vorab gelesen, dass „Amer“ eine Hommage an den Giallo, den guten alten 70er-Jahre-Krimi-Horror-Thriller aus Bella Italia sein soll. Da ist nicht viel dran – außer den letzten vielleicht zehn Minuten hat „Amer“ mit Giallo bzw. dem, was man sich gemeinhin und mit Recht darunter vorstellt, nichts, aber auch gar nichts am Hut. „Amer“ ist sicherlich eine Hommage, aber nicht an ein Filmgenre schlechthin, sondern an Methoden, Stimmungen, audiovisuelle Umsetzung und Experimentiergeist des 70er-Exploitationfilms generell. Das kann man sogar relativ gut und deutlich (und „deutlich“ ist ein Wort, das in „Amer“-Reviews höchstwahrscheinlich nicht zu oft vorkommt) an den drei – mit Ausnahme der Figur Anas per se nicht sonderlich miteinander verquickten – Episoden aufzeigen.

Episode 1 ist, wenn man so will, zum einen die einzige Episode, die einem verhältnismäßig klaren Narrative folgt, und sich inhaltlich an italienischen Okkult-Grusel (ein später Vertreter dieses Subgenres wäre z.B. der hier besprochene Totentanz der Hexen 2) anlehnt (aber durchaus offen lässt, ob sich das „Wesentliche“ ausschließlich in Anas Fantasie abspielt), Episode 2 ist vom Feeling her eine Zelebrierung des „Zärtliche Cousinen“-Weichzeichner-Voyeuristen-Erotikfilms vom Schlage David Hamilton – ohne jemals auch nur andeutungsweise „explizit“ zu werden, Episode 3 erinnert mit dem „klassischen“ hübsche-Frau-schleicht-nächtens-durch-gothisches-Gemäuer zunächst an Jean Rollins beste Werke, ehe zum Finale hin dann doch der kurze Schlenker zum Argento’esqen Giallo mit dem ewigen Killer mit dem schwarzen Handschuh gemacht wird.

Aber die „Geschichten“ sind komplett unwichtig – sie sind bloße Backdrops, die sich mit voller Absicht jeden Anflugs lehrbuchgemäßen Storytellings widersetzen, nur den Rahmen setzen für Bilder und Töne (und mit „Töne“ sind gewiss keine Dialoge gemeint… mit den Dialogen „Amers“ kann man mit Müh und Not zwei Seiten füllen), für ein speziell visuelles anything goes psychedelischer Natur. Die Kameraarbeit ist überwiegend statisch – es ist kein Fest der opulenten Kamerafahrten eines Argento, es ist vielmehr eine Abfolge von *Bildern* (ich hoffe, mich einigermaßen verständlich auszudrücken), die weniger das Gefühl beim Zuschauer, etwas atemberaubendes gesehen zu haben, auslösen als Stimmungen visualisieren sollen – Cattet und Forzani setzen z.B. geradezu inflationär auf extreme Nahaufnahmen (besonders Augenpartien haben es ihnen angetan) bis hin zur echten Makrofotografie (sollte man jemals das Bedürfnis gehabt haben, einzelne Haarfollikel formatfüllend auf der Leinwand betrachten zu wollen, ohne sich ein Frisörlehrvideo per Beamer zu Gemüte zu führen, kommt man hier auf seine Kosten).

Für ordinäre Sehgewohnheiten mag das „Amer“ zu einer ausgesprochen frustrierenden Angelegenheit machen und in der Tat braucht man auch als, sagen wir mal „gutwillig Interessierter“ eine gewisse Zeit, um in den Film hineinzufinden, sich darauf einzulassen, dass hier gar nicht versucht wird, eine stringente, kohärente Geschichte zu erzählen, sondern einzig und allein eine Abfolge mehr oder weniger bizarrer Bilder (ein Highlight ist sicher der Höhepunkt der ersten Episode, die aus anderen Städten schon ehrfürchtig kolportierte „Primärfarbenszene“, in der sich eben in Primärfarben – zunächst – eine Sexszene mit Anas Eltern abspielt… psychedelic, baby!) auf den Zuschauer einprasselt (naja, „einprasseln“ ist jetzt auch wieder falsch, das würde Tempo suggestieren, und „Amer“ hat sicherlich so einige Interessen, aber nicht jenes, eine forsche Gangart anzuschlagen, ganz im Gegenteil… also sagen wir lieber „den Zuschauer umrankt“), akustisch untermauert durch einen sensationell aus Giallo- und Polizotto-Scores (namentlich solchen von Bruno Nicolai, Ennio Morricone und – ausführlichst – Stelvio Cipriano) zusammengestellten Soundtrack (ich weiß nicht, ob die Rechtelage da ein offiziöses Soundtrack-Album ermöglicht, falls ja, melde ich hier dringenden Bedarf an). Bringt man die Voraussetzungen mit, einem mal wirklich im Wortsinne „psychotronischen“ Film folgen zu wollen, ist „Amer“ keinesfalls langweilig, obwohl – speziell in der Mittelepisode – wenig bis nichts *passiert*, doch stellt sich rasch diese gewisse Faszination ein, etwas völlig *anderes* zu sehen (und, seien wir ehrlich, was wir, auch an dieser Stelle, immer wieder einfordern, ist Originalität, und auch wenn „Amer“ nur hier ein Zitat einbaut, von dort eine Einstellung übernimmt und in einen neuen Zusammenhang (oder eben auch nicht) stellt, so ist der Streifen fraglos so eigenständig, wie ein Film nur sein kann) und damit einhergehend die gespannte Erwartungshaltung, welchen Kunstgriff das Regieteam sich als nächstes aus dem Ärmel schütteln wird. Fehlt’s an dieser richtigen Grundeinstellung, kann „Amer“ fraglos sehr ermüdend und repetetiv sein, insbesondere über den Mittelabschnitt gilt es sich dann mit aller Willenanstrengung zu hieven, um wenigstens noch zu dem Teil zu kommen, in dem’s gewalttätig und blutig wird.

Wo wir dann schon mal beim Thema sind – ist man durch die ersten beiden Vignetten ein wenig eingelullt (da’s in der Kinder-Geschichte ja nur verhältnismäßig sanften Grusel gibt und die Teenie-Story sich ja überhaupt alles spart, was man irgendwie noch ins „Genre“ rechnen könnte), überraschen die letzten Minuten dann doch noch mit relativ herbem Gewaltausbruch, der vor allen Dingen aufgrund der auch hier bevorzugt eingesetzten extremen close-ups unangenehm (obwohl nun nicht wirklich gerade in Blut und Eingeweiden gewatet wird…) berührt.

Die schauspielerischen Leistungen sind schwer zu bewerten – die Akteure, allesamt unbeschriebene Blätter, haben ja nicht wirklich großartige Spielszenen zu bewältigen, wobei Cassandra Forêt, die Kinderdarstellerin der ersten Episode, einen guten Job abliefert, die kindliche Verunsicherung, wenn’s um Themen wie Tod, Alter und Sexualität geht, zu verkörpern. Charlotte Eugène Guibeaud, die Teen-Ana, ist dagegen wirklich 1a Sinnbild dieser eben besonders in den 70ern ausgesprochen beliebten Kindfrau-Erotik (und abgesehen davon könnte man sie und ihre Filmmutter Bianca Maria D’Amato – die im Gegensatz zum alten Schmutzfinken Joe *wirklich* so heißt – tatsächlich für Mutter und Tochter halten), und Marie Bos, die erwachsene Ana-Ausgabe, ist ihre konsequente Fortschreibung (da darf man mal dem Casting-Direktor gratulieren). Insbesondere Guibeaud hat natürlich nicht mehr zu tun, als mit leicht verwirrt-erotischem Blick in die Gegend zu stieren und hübsch auszusehen; auch Marie Bos hat einige wirklich sehr erotische Szenen (ihr Tagtraum während der Taxifahrt…). Auf die weiteren Darsteller ausdrücklich einzugehen, verbietet sich aufgrund der teilweise mikrobenhaften Rollenumfänge.

Fazit: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Euch dieses Review als Entscheidungsfindung, ob Ihr „Amer“ sehen solltet oder nicht, überhaupt nicht weitergeholfen hat. Liegt daran, dass ich mir, gut zehn Tage, nachdem ich den Film gesehen habe, selbst immer noch völlig unschlüssig bin, ob er mir gefallen hat oder nicht. Ich kann mit Sicherheit ausschließen, dass er mich kalt gelassen hätte (und schon gar bin ich traurig darüber, meinen persönlichen Festivalplan kurzfristig umgestellt und „Alice Creed“ ausgebootet zu haben) – ich bin in gewisser Weise beeindruckt, allein schon des Konzepts und der konsequenten Umsetzung dieser totalen Verweigerung an etablierte Konventionen wegen, aber ich bin auch ziemlich davon überzeugt, dass ich „Amer“ in absehbarer Zeit nicht noch mal ansehen muss (rewatchability könnte hier echt ein Stichwort sein). Ob die Welt etwas gebraucht hat, was letztendlich eine Collage aus 70er-Exploitation-Versatzstücken ohne großen strukturellen Zusammenhang ist, ist fraglich – allerdings hab ich oben schon gesagt, dass wir im phantastischen Genre nach Ideen, nach Originalität förmlich lechzen, und dass „Amer“ darüber verfügt, ist nicht zu bestreiten, auch wenn es irgendwie Ideen aus zweiter Hand sind, die wie Fotos aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und neu zusammengesetzt werden, aber Collagen sind ja durchaus eine anerkannte Kunstform. Wenn alle Stricke reißen, ließe sich „Amer“ hervorragend als „ambience“ auf einer 70er-Psychedelic-Fete einsetzen. Ich verbleibe mit neutraler Ratlosigkeit, eins steht aber fest – ich will das Poster und den Soundtrack…

3/5
(c) 2010 Dr. Acula


mm
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